Deutsch-Französisches
Forum: Der Intellektuelle und der Staat: Wie würden Sie die
Rolle und die Einflussmöglichkeiten des Intellektuellen heute
innerhalb des Gemeinwesens definieren?
Alain Finkielkraut:
Im Grunde liegen, glaube ich, die ruhmreichen Zeiten des Intellektuellen
hinter uns. Diese Zeiten lassen sich wohl in zwei grosse Perioden
unterteilen.
Die erste Zeitspanne
begann mit der Philosophie der Aufklärung, vor allem in Frankreich.
Wie Tocqueville gezeigt hat, besassen die Intellektuellen eine sehr
wichtige kritische Kraft: Sie haben der französischen Revolution
als erste den Boden bereitet und auch die Grundlagen der absoluten
Monarchie abgelehnt. Die Dreyfus-Affäre, während der der
Begriff des Intellektuellen geprägt wurde, bildete den Höhepunkt
dieser Epoche; da sind die Intellektuellen sowohl für eine
zu Unrecht angeklagte Person eingetreten als auch für eine
ihnen eigene Herangehensweise, Methode und Moral in Abgrenzung zu
Staatsräson und Masseninstinkten, die geweckt wurden. Charakteristisch
für diese Epoche war somit also der binäre Gegensatz zwischen
Aufklärung und Vernunftdenken einerseits sowie Vorurteilsdenken,
Verschleierung und Abhängigkeit andererseits. Aufklärung,
das ist die Menschheit, die aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit
hinaustritt und mündig wird. Die Männer und Frauen des
Geistes dienen der Menschheit als notwendige Führung auf dem
Weg in die Mündigkeit, auf dem Weg zum Vernunftdenken. Aber
auch wenn wir heute dem Aufklärungsdenken immer noch treu und
innig verbunden sind, so kann diese Epoche doch nicht als unsere
gelten: Die Pluralität der Standpunke lässt sich heute
nicht länger auf die einfache und schlichte Oppositionsbildung
zwischen der Vernunft und seinem Gegenteil reduzieren. Es gibt noch
andere Möglichkeiten, rational und vernunftgesteuert zu handeln.
Bei den Intellektuellen, von dieser allzu einfachen Dichotomisierung
durchdrungen, zeigte sich im Zuge der Aufklärungsbewegung ein
wenig die Tendenz, zu übersehen, dass der Pluralität etwas
Unauflösliches anhaftet. Ich glaube, dass diese Vereinfachung
uns umso mehr untersagt ist, als sie in der darauf folgenden Epoche
eine doktrinäre, ja totalitäre Gestalt angenommen hat.
Das zweite
Zeitalter des Intellektuellen liesse sich als ruhm-reich, aber auch
als zwiespältig bezeichnen. In der durch die Oktoberrevolution
eingeleiteten Epoche befindet sich der Intellektuelle in einer eigenartigen
Situation. Auf der einen Seite fand die Behauptung, der zufolge
der wahre Ort der Philosophie nicht länger der Gedanke sei,
sondern die Tat, gewissermassen ihre Inkarnation. Es schien sich
ein philosophischer Staat herauszubilden, der die Ansprüche
der Philosophie im modernen Zeitalter in sich berge. Dieser Staat,
die UdSSR, sollte den Menschen zum Herrscher und Gebieter über
die Natur machen und eine allgemeine Emanzipierung des Menschengeschlechts
zur Folge haben. In diesem Gedanken, dass die Geschichte eine philosophische
Bedeutung habe, war somit also eine Art geistiger Hochmut verborgen.
Auf der anderen Seite verkörperte der Intellektuelle nun nicht
mehr die "Stätte" der geistigen Ausdrucksform. Er
musste seinen Elfenbeinturm verlassen und wirklich in die Praxis
treten. Das Spekulieren war ihm nunmehr untersagt. Denken bedeutete
nun nicht mehr Theorie, sondern die Praxis selbst. Daher auch der
Ausdruck "Weggenossen", der nun auftauchte. Philosophiert
wurde jetzt neben den Intellektuellen, in den Produktionsstätten
und im Kampf. Diese zweite Periode stellt durchaus ein Zeitalter
des Ruhms dar, erscheint die Geschichte doch als geistige, gleichzeitig
aber auch als ein Zeitalter des schlechten Gewissens und der Unterwerfung,
da die Intellektuellen der Geschichte, die sich ohne sie vollzog,
hinterherliefen. Wenn sie sich nicht des Idealismus schuldig machen
wollten, mussten sie den Schritt vollziehen, der sie von der Geschichte
trennte.
Nachdem diese
von der Oktoberrevolution eingeleitete Phase nun vorbei ist, befinden
wir uns jetzt in einer prosaischeren Situation. Man kann sagen,
dass wir uns keinerlei Illusionen mehr hingeben, die Geschichte
sei der eigentliche Ort der Philosophie. Wir glauben nicht länger
an die Hegelsche Gleichsetzung von Wirklichkeit und Vernunft. So
sind wir Intellektuelle und alle anderen also dazu gezwungen, uns
über das, was geschieht, ein Bild zu machen, ohne Gewissheiten,
aber auch ohne auf das traditionelle Schema der Aufklärung
Bezug zu nehmen, wo der Intellektuelle die Vernunft repräsentiert
und wo ihm die Aufgabe zufällt, das in Unkenntnis gehaltene
Volk zu belehren. Die Unübersichtlichkeit der Ereignisse lässt
sich nicht auf eine Philosophiegeschichte zurückführen,
und auch der Pluralismus der Meinungen kann nicht auf das klassische
Schema der Emanzipation, den Gegensatz Unwissenheit versus Aufklärung,
reduziert werden. Der Intellektuelle handelt dann politisch, wenn
er sich auf eigene Gefahr - und obwohl von Berufs wegen kein Politiker
- darum bemüht, das, was geschieht, gedanklich zu fassen. Vielleicht
wirft er dabei - nicht anders als seine Vorläufer - seine ganze,
aber auf anderem Gebiet errungene Autorität in die Waagschale.
Trotzdem muss er dabei von Fall zu Fall und jedesmal wieder aufs
Neue beurteilt werden.
Forum: Glauben
Sie, dass diese Entwicklung des Intellektuellen, der etwas in den
Hintergrund tritt, in den anderen europäischen Ländern
ähn-lich verläuft? Welche Unterschiede sehen Sie hinsichtlich
der Macht des Wortes, über die der Intellektuelle in Frankreich
und in anderen Ländern wie Deutschland verfügt?
A. F. : Ich
würde gar nicht einmal sagen, dass es sich um ein In-den-Hintergrund-Treten
handelt. Ich bin gar nicht so sehr dafür, dass sich die Intellektuellen
zurückhalten. Ich finde, dass es wichtig ist, die politische
Diskussion nicht allein den Parteien und den Politikern zu überlassen.
Letzteren fehlt eigentlich die Zeit zum Nachdenken, zum einen wegen
ihrer terminlichen Belastung, zum anderen wegen ihres strategisch
leicht verfälschten Verhältnisses zur Wahrheit - was im
übrigen durchaus legitim ist -, dem sie verpflichtet sind.
Der Intellektuelle ist dem Politiker insofern überlegen, als
er um ihrer selbst willen nach der Wahrheit forschen kann, da ihm
Ambitionen anderer Natur abgehen und sein persönlicher Ehrgeiz
mit dieser Wahrheitssuche gut vereinbar ist. Er profitiert also
von einer gewissen intellektuellen Gedankenfreiheit, die auch die
politische Debatte bereichern sollte.
Der Intellektuelle
soll also keineswegs - etwa in Gestalt eines Philosophenkönigs
- den Politiker ablösen, aber er soll sehr wohl - das ist wichtig
- an der Diskussion teilhaben. Es geht hier also gar nicht um ein
In-den-Hintergrund-Treten. Es lässt sich lediglich beobachten,
dass ihm die Garantien abhanden gekommen sind, die er früher
noch hatte: Er kann sich noch so oft in der Tradition der Aufklärung
sehen, er ist kein Statthalter der Vernunft. Im übrigen sieht
sich der Intellektuelle heute einer Geschichtsentwicklung gegenüber,
von der er eigentlich nicht weiss, wohin sie sich bewegt. Seine
Aufgabe ist es somit, das, was geschieht, konzeptionel zu erfassen,
ohne dass er dafür aber eine Lösung parat hätte,
da er ein Ereignis nicht länger als einen Teil eines Gesamtschemas
betrachten kann, durch das es erklärbar würde. Aber auch
wenn sich die Situation dadurch ein wenig geändert hat, glaube
ich nicht, dass man deswegen schon von einem In-den-Hintergrund-Treten
sprechen kann.
Auch wenn eine
bestimmte Hoch-Zeit des Intellektuellen zu Ende gegangen ist, so
hoffe ich doch, dass wir noch nicht am Ende der politischen Einmischung
und am Ende einer Diskussionsform angelangt sind, die auch die Menschen
erfasst, die keine Berufspolitiker sind. Wie dem auch sei, die Natur
und die Intensität dieser Diskussionen sind, abhängig
von der jeweiligen Tradition, von einem Land zum anderen sehr unterschiedlich.
Für Frankreich hat Tocqueville in "Der Alte Staat und
die Revolution" gezeigt, dass die hommes de lettres, die Intellektuellen,
seit langem am politischen Leben teilhatten. Sie tun es auch weiterhin,
vielleicht sogar stärker als in anderen Ländern, in denen
diese Tradition nicht besteht.
Dagegen stelle
ich fest, dass es in Deutschland seit einigen Jahren eine hochinteressante
intellektuelle Auseinanderset-zung gibt, die bisweilen von besserer
Qualität ist als in Frankreich. Ein Beispiel: Die Geschichtskontroverse
zwischen Ernst Nolte und Habermas, an der in den 80er Jahren durch
die Presse ganz Deutschland Anteil nahm. Auch Martin Walser hat
mit seinen kürzlich erfolgten Äusserungen zur Instrumentalisierung
der Schoah durch die Medien Anlass zu einer sehr heftigen Auseinandersetzung
gegeben. Ausserdem ist es dort in Ansätzen zu einer Debatte
über den von Habermas so bezeichneten Verfassungspatriotismus
gekommen, wonach es für Deutschland notwendig sei, mit dem
Patriotismus Schluss zu machen, um das Modell einer reinen Verfahrensdemokratie
zu verkörpern. Habermas wurde von kompetenten Leuten geantwortet,
wodurch die Diskussion fortgesetzt wurde. Leider stelle ich fest,
dass die Deutschen von ihren Zeitungen viel besser über die
französischen Debatten unterrichtet werden als die Franzosen
über die deutschen. Dies ist mir einmal mehr aufgefallen, als
ich vor kurzem in Deutschland war, wo die Houellebecq-Debatte eine
anspruchsvolle Auseinandersetzung über ästhetische Fragen
angeregt hat. Natürlich haben wir auch von der Walser-Debatte
erfahren, aber nicht erschöpfend oder hinreichend. Keine französische
Zeitung oder Fernsehanstalt hat auch nur daran gedacht, mit Martin
Walser ein Gespräch zu führen. Was gerade in Deutschland
passiert, zeigt, dass die französische Spezifizität des
Intellektuellen im Begriff ist, Verbreitung zu finden. Das kann
nur gut sein. Die Selbstbezüglichkeit Frankreichs dagegen ist
es nicht.
Forum: Die
vor kurzem erfolgte Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen
François Furet und Ernst Nolte zeigt, dass so manche Debatte
auch grenzüberschreitend geführt wird.
A. F.: Das
ist richtig. Das Buch ist übrigens sehr interessant.
Forum: Halten
Sie die Aussicht auf eine Vereinheitlichung der Universitätsabschlüsse
in den Unionsländern für eine Bereicherung oder eine Verarmung
der europäischen Kulturtraditio-nen?
A. F.: Ich
persönlich bin nicht für eine Vereinheitlichung. Eine
bestimmte Auffassung des Universellen führt uns natürlich
zur Vereinheitlichung, aber meiner Meinung nach ist das kein glückliches
Konzept. Kundera hat einmal geschrieben, dass Europa eine maximale
Vielfalt auf minimalem Raum darstelle. Genau darin besteht das europäische
Erbe, für das wir Verantwortung tragen, egal ob im Bereich
Kultur oder Agrikultur. Im übrigen finde ich den Vergleich
zwischen Agrikultur und Kultur interessant. Die Literaten betrachten
die Bauern zu Unrecht mit Geringschätzung. Diese nehmen nämlich
bisweilen deren Zukunft vorweg. Das Ende der Bauern kündigt
vielleicht auch das Ende einer bestimmten europäischen Kultur
an. Stets hat sich Europa aus Landschaften grösster Vielfalt
zusammengesetzt. Es gibt keine unberührten Landstriche wie
in Amerika. Unser Kontinent besteht sowohl innerhalb der Länder
als auch von einem Land zum anderen aus ausserordentlich verschiedenen
Landschaften und Nutzflächen. Das alles ist im Wandel. Weitreichende
Flurbereinigungen sind im Gang, die Landwirtschaft industrialisiert
sich, die Menschen verlassen das Land ... im Namen Europas, an dem
wir gerade arbeiten. Ich finde, das man damit Europa, dessen Erbe
wir angetreten haben, einen Bärendienst erweist.
Ich habe den
Eindruck, dass dasselbe im universitären Bereich geschieht:
Zum Aufbau Europas zerstört man Europa. Ich finde das schade,
denn ich weiss nicht recht, was der Vorteil dieser Vereinheitlichung
sein soll. Europa war ein Kontinent, dessen Einheit durch die Verschiedenheit
seiner Erscheinungsformen gewährleistet wurde. Dieses Band
des Einen und des Vielen scheint heute zugunsten des Einen und zuungunsten
des Vielen durchschnitten. Natürlich bin ich der Überzeugung,
dass sich dies in gewisser Hinsicht günstig für den Verbraucher
auswirken wird. Die guten Studenten können dann, wenn Europa
zu Euroland geworden ist, dort, wo sie es wünschen, zur Universität
gehen. Aber wozu soll das am Ende führen? Ich bin ein wenig
skeptisch. Ich hatte die Gelegenheit, die ersten Folgen einer solchen
Situation an der Ecole Polytechnique zu beobachten, an der ich unterrichte
und die internationaler werden soll. Die Schule möchte viele
ausländische Studenten empfangen, die allerdings die französische
Sprache deutlich schlechter beherrschen als die französischen
Studenten. Diese Öffnung wird somit also zwangsweise zu Lasten
solcher Fächer gehen, wie auch ich sie unterrichte: Philosophie,
Geistesgeschichte, Literatur, und bei denen die natürliche
Sprache eine zentrale Rolle spielt. So werden also zuallererst die
Sprachen unter der Vereinheitlichung zu leiden haben. Nun sind die
Sprachen für mich persönlich aber aus der europäischen
Kultur nicht wegzudenken. Eine europäische Kultur, die sich
ihres sprachlichen Humusbodens entledigte, wäre in meinen Augen
notwendigerweise eine ärmere Kultur, d.h. eine immer technischer
werdende und immer weniger erdverbundene Kultur.
Forum: Sie
stellen aber nicht die Notwendigkeit von zwischenstaatlichen schulischen
und universitären Austauschprogrammen in Frage?
A. F.: Nein.
Selbstverständlich habe ich nichts gegen diese Austauschprogramme.
Sie können allerdings ganz unterschiedliche Formen annehmen.
Sobald man eine Sprache in einem Land erlernt, bewegt man sich ja
bereits in Austauschstrukturen. Wenn man dagegen reist und die Sprachen,
die man lernt und mit denen man umgeht, um ihr literarisches Gedächtnis
verkürzt, so wie es heute geschieht, so ist man zwar an vielen
verschiedenen Orten, tauscht aber nur wenig aus. Paradoxerweise
sind für einen Austausch Bedingungen erforderlich, die bei
der heute herrschenden Hektik gefährdet, ja verloren erscheinen:
Alle fahren überall hin, aber niemand macht sich die Mühe,
die Sprachen der Anderen so zu lernen, wie es wünschenswert
wäre. Ich glaube, dass man das Fremde über die Sprache
kennen lernt, nicht nur in Zügen.
Forum: Denken
Sie, dass die akademischen Austauschprogramme genügen, um eine
"Gemeinschaft des Geistes" hervorzubringen?
A. F.: Das
hängt davon ab, was man unter "Gemeinschaft des Geistes"
versteht. Wenn es sich dabei um die zunehmende Ähnlichkeit
der europäischen Bevölkerungen handelt, um eine Annäherung
ihrer Denk- und Lebensweisen, dann würde ich vielleicht mit
ja antworten. Wenn man damit hingegen ihr Bedürfnis meint,
Trennendes zu erkennen, so wäre meine Antwort wohl: Nein. Gemeinschaft
des Geistes bedeutet weder ein Ineinanderaufgehen noch eine Verschmelzung.
Gemeinschaft beinhaltet auch die Erfahrung und den Gefallen an einer
gewissen Trennung, einer gewissen Distanz. Wir sprechen verschiedene
Sprachen, was bedeutet, dass etwas Unauflösliches zwischen
uns steht.
Forum: Wenn
man aber in Bezug auf Europa von der "Gemeinschaft des Geistes"
spricht, und besonders zwischen Frankreich und Deutschland, dann
denkt man an Madame de Staël, Voltaire, Humboldt und andere
Intellektuelle, Philosophen, Musiker und Künstler, die Europa
bereist haben?
A. F.: Ja,
ein Europa des Geistes ist zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert
entstanden. Dann ist es aber zu dem folgenreichen Bruch durch die
Romantik gekommen. Wir sind die Erben der Aufklärung und der
Romantik. Es geht dabei weniger darum, eine Tradition von uns zu
weisen, als darum, beide Traditionen mit ihren Widersprüchen
anzunehmen. Die Aufklärung erinnert uns daran, wie wichtig
die Freiheit und die Loslösung von der eigenen Geschichte ist,
und die Romantik an die Bedeutung der Zugehörigkeit, der Verwurzelung
in einer eigenen Geschichte. Sie vermittelt uns auch den Sinn für
Pluralität. Gegenüber einer europäischen Homogenisierung,
für die Euroland kennzeichnend ist, dürfen wir eben jenen
Sinn für die Pluralität nicht vergessen.
Forum: Was
sind Ihrer Meinung nach zur Zeit die fruchtbarsten und originellsten
Denkströmungen in Frankreich und in Deutschland (oder allgemeiner
gesagt in Europa)?
A. F.: Das
ist eine sehr heikle Frage. Ich will lieber mit einer Liste von
Denkern antworten, die mir sehr wichtig erscheinen. Einige von ihnen
leben noch, andere sind inzwischen verstorben. Ich habe Kundera
erwähnt: Was er über Europa zu sagen hat, ist von zentralem
Wert und wird einen langfristigen Einfluss haben. Ich möchte
auch Levinas nennen, der erst vor kurzem verstorben ist. Es gibt
übrigens auch noch andere Denker, deren Reichtum wir bei weitem
noch nicht ausgeschöpft haben, wie Hannah Arendt, Horkheimer,
Adorno. Walter Benjamin auch, oder Heidegger, trotz der Schwierigkeiten,
auf die man stösst, wenn man sich heutzutage auf ihn beziehen
will. Und da ist dann auch Jan Patocka aus der tschechischen Dissidenz.
Das sind Namen, die ich ungeordnet nennen möchte.
Aber ich glaube
auch, dass es heute in Europa und in der westlichen Welt ein neu
erwachtes Interesse für die politische Philosophie gibt. Mit
dem Ende des Marxismus hat man verstärkt die Klassiker des
Liberalismus, der Republik und der Demokratie wiederentdeckt. Tocqueville,
Benjamin Constant, Hobbes, Spinoza u.a. wurden neugelesen. Die Denker
des 20. Jahrhunderts wie Leo Strauss waren schon immer fleissige
Leser. Die politische Philosophie erscheint mir heute also als ein
sehr regsamer Zweig des modernen Denkens. Die von ihr aufgeworfenen
Problemstellungen sind sowohl gelehrt als auch aktuell, da sie in
der Frage bestehen, in was für einer Zeit wir eigentlich leben
und was das relative Ende der Nationen bringen wird. In einer nationalen
Republik waren die Individuen um eine bestimmte Vorstellung der
gemeinsamen Welt, um ein Erbe und ein Kollektivprojekt herum vereint.
Wird dies immer noch der Fall sein können in einer postnationalen
Einheit? Sind wir nicht vielmehr im Begriff, in ein anderes Zeitalter
der Republik und der Demokratie einzutreten, das vielleicht ein
Zeitalter des Verfahrens ist, eines, wo der Staat neutral wird und
nur noch zur Aufgabe hat, zwischen den verschiedenen Interessen
und Identitäten seiner Mitglieder zu schlichten. Diese Frage
stellt sich uns allen und sie wird glücklicherweise von der
politischen Philosophie begleitet. Gleichzeitig - wo ich schon Heidegger
erwähnt habe - ist es auch weiterhin meine Überzeugung,
dass die grosse Fragestellung des 20. Jahrhunderts eine Frage der
Grenzen ist, denn man kann nicht mehr länger mit einer Fortschrittsideologie
leben. Werden wir dazu in der Lage sein, unsere eigene Macht zu
beherrschen? Um mit den Worten eines bedeutenden Philosophen wie
Hans Jonas zu sprechen: Wird es uns gelingen, vom "Prinzip
Hoffnung" Abschied zu nehmen, das uns seit dem Beginn der Moderne
geleitet hat, zugunsten des "Prinzips Verantwortung"?
Das sind die Fragen, die sich uns allen stellen und die - das sei
noch einmal gesagt - von der Philosophie getragen werden.
Eigene
Übersetzung des Forum
Veröffentlichungen
Editions Gallimard
- "L'ingratitude" - NRF, 1999.
- "La sagesse de l'amour".
- "La mémoire vaine. Du crime contre l'humanité".
- "Le mécontemporain. Péguy, lecteur du monde moderne".
- "Comment peut-on être croate ?".
Editions du Seuil
- Le nouveau désordre amoureux"
- en collaboration avec Pascal Bruckner.
- "Ralentir mots-valises !".
- "Au coin de la rue, l'aventure"
- en collaboration avec Pascal Bruckner.
- "Le juif imaginaire".
- "Le petit fictionnaire illustré".
- "L'avenir d'une négation
- Réflexion sur la question du génocide".
- "L'humanité perdue - Essai sur le XXe siècle".
Editions Denoël
- "La réprobation d'Israël"
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