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• Ein Gespräch mit Alain FINKIELKRAUT
"Ich bin ganz und gar nicht dafür, dass sich die Intellektuellen heraushalten. Ich denke, dass es wichtig ist, die politische Debatte nicht den Parteien und den Politikern zu überlassen. (…) Wenn die ruhmreiche Zeit des Intellektuellen auch hinter uns liegt, so ist doch nicht zu hoffen, dass Gleiches auch für die politische Einmischung und für die Diskussionen gilt, die eben nicht nur den Berufspolitikern vorbehalten bleiben dürfen." In vorliegendem Interview widmet sich Alain Finkielkraut vorwiegend der Frage nach der gesellschaftlichen Rolle des Intellektuellen, der fehlenden Durchlässigkeit unserer Grenzen im Hinblick auf die intellektuellen Auseinandersetzungen in anderen europäischen Ländern und kommt darüber hinaus auch auf Fragen der Bildungspolitik und die Denkströmungen zu sprechen, von denen in seinen Augen heute in Europa die größten Anregungen ausgehen. ©2000
Alain FINKIELKRAUT - Philosoph


Deutsch-Französisches Forum: Der Intellektuelle und der Staat: Wie würden Sie die Rolle und die Einflussmöglichkeiten des Intellektuellen heute innerhalb des Gemeinwesens definieren?

Alain Finkielkraut: Im Grunde liegen, glaube ich, die ruhmreichen Zeiten des Intellektuellen hinter uns. Diese Zeiten lassen sich wohl in zwei grosse Perioden unterteilen.

Die erste Zeitspanne begann mit der Philosophie der Aufklärung, vor allem in Frankreich. Wie Tocqueville gezeigt hat, besassen die Intellektuellen eine sehr wichtige kritische Kraft: Sie haben der französischen Revolution als erste den Boden bereitet und auch die Grundlagen der absoluten Monarchie abgelehnt. Die Dreyfus-Affäre, während der der Begriff des Intellektuellen geprägt wurde, bildete den Höhepunkt dieser Epoche; da sind die Intellektuellen sowohl für eine zu Unrecht angeklagte Person eingetreten als auch für eine ihnen eigene Herangehensweise, Methode und Moral in Abgrenzung zu Staatsräson und Masseninstinkten, die geweckt wurden. Charakteristisch für diese Epoche war somit also der binäre Gegensatz zwischen Aufklärung und Vernunftdenken einerseits sowie Vorurteilsdenken, Verschleierung und Abhängigkeit andererseits. Aufklärung, das ist die Menschheit, die aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit hinaustritt und mündig wird. Die Männer und Frauen des Geistes dienen der Menschheit als notwendige Führung auf dem Weg in die Mündigkeit, auf dem Weg zum Vernunftdenken. Aber auch wenn wir heute dem Aufklärungsdenken immer noch treu und innig verbunden sind, so kann diese Epoche doch nicht als unsere gelten: Die Pluralität der Standpunke lässt sich heute nicht länger auf die einfache und schlichte Oppositionsbildung zwischen der Vernunft und seinem Gegenteil reduzieren. Es gibt noch andere Möglichkeiten, rational und vernunftgesteuert zu handeln. Bei den Intellektuellen, von dieser allzu einfachen Dichotomisierung durchdrungen, zeigte sich im Zuge der Aufklärungsbewegung ein wenig die Tendenz, zu übersehen, dass der Pluralität etwas Unauflösliches anhaftet. Ich glaube, dass diese Vereinfachung uns umso mehr untersagt ist, als sie in der darauf folgenden Epoche eine doktrinäre, ja totalitäre Gestalt angenommen hat.

Das zweite Zeitalter des Intellektuellen liesse sich als ruhm-reich, aber auch als zwiespältig bezeichnen. In der durch die Oktoberrevolution eingeleiteten Epoche befindet sich der Intellektuelle in einer eigenartigen Situation. Auf der einen Seite fand die Behauptung, der zufolge der wahre Ort der Philosophie nicht länger der Gedanke sei, sondern die Tat, gewissermassen ihre Inkarnation. Es schien sich ein philosophischer Staat herauszubilden, der die Ansprüche der Philosophie im modernen Zeitalter in sich berge. Dieser Staat, die UdSSR, sollte den Menschen zum Herrscher und Gebieter über die Natur machen und eine allgemeine Emanzipierung des Menschengeschlechts zur Folge haben. In diesem Gedanken, dass die Geschichte eine philosophische Bedeutung habe, war somit also eine Art geistiger Hochmut verborgen. Auf der anderen Seite verkörperte der Intellektuelle nun nicht mehr die "Stätte" der geistigen Ausdrucksform. Er musste seinen Elfenbeinturm verlassen und wirklich in die Praxis treten. Das Spekulieren war ihm nunmehr untersagt. Denken bedeutete nun nicht mehr Theorie, sondern die Praxis selbst. Daher auch der Ausdruck "Weggenossen", der nun auftauchte. Philosophiert wurde jetzt neben den Intellektuellen, in den Produktionsstätten und im Kampf. Diese zweite Periode stellt durchaus ein Zeitalter des Ruhms dar, erscheint die Geschichte doch als geistige, gleichzeitig aber auch als ein Zeitalter des schlechten Gewissens und der Unterwerfung, da die Intellektuellen der Geschichte, die sich ohne sie vollzog, hinterherliefen. Wenn sie sich nicht des Idealismus schuldig machen wollten, mussten sie den Schritt vollziehen, der sie von der Geschichte trennte.

Nachdem diese von der Oktoberrevolution eingeleitete Phase nun vorbei ist, befinden wir uns jetzt in einer prosaischeren Situation. Man kann sagen, dass wir uns keinerlei Illusionen mehr hingeben, die Geschichte sei der eigentliche Ort der Philosophie. Wir glauben nicht länger an die Hegelsche Gleichsetzung von Wirklichkeit und Vernunft. So sind wir Intellektuelle und alle anderen also dazu gezwungen, uns über das, was geschieht, ein Bild zu machen, ohne Gewissheiten, aber auch ohne auf das traditionelle Schema der Aufklärung Bezug zu nehmen, wo der Intellektuelle die Vernunft repräsentiert und wo ihm die Aufgabe zufällt, das in Unkenntnis gehaltene Volk zu belehren. Die Unübersichtlichkeit der Ereignisse lässt sich nicht auf eine Philosophiegeschichte zurückführen, und auch der Pluralismus der Meinungen kann nicht auf das klassische Schema der Emanzipation, den Gegensatz Unwissenheit versus Aufklärung, reduziert werden. Der Intellektuelle handelt dann politisch, wenn er sich auf eigene Gefahr - und obwohl von Berufs wegen kein Politiker - darum bemüht, das, was geschieht, gedanklich zu fassen. Vielleicht wirft er dabei - nicht anders als seine Vorläufer - seine ganze, aber auf anderem Gebiet errungene Autorität in die Waagschale. Trotzdem muss er dabei von Fall zu Fall und jedesmal wieder aufs Neue beurteilt werden.

Forum: Glauben Sie, dass diese Entwicklung des Intellektuellen, der etwas in den Hintergrund tritt, in den anderen europäischen Ländern ähn-lich verläuft? Welche Unterschiede sehen Sie hinsichtlich der Macht des Wortes, über die der Intellektuelle in Frankreich und in anderen Ländern wie Deutschland verfügt?

A. F. : Ich würde gar nicht einmal sagen, dass es sich um ein In-den-Hintergrund-Treten handelt. Ich bin gar nicht so sehr dafür, dass sich die Intellektuellen zurückhalten. Ich finde, dass es wichtig ist, die politische Diskussion nicht allein den Parteien und den Politikern zu überlassen. Letzteren fehlt eigentlich die Zeit zum Nachdenken, zum einen wegen ihrer terminlichen Belastung, zum anderen wegen ihres strategisch leicht verfälschten Verhältnisses zur Wahrheit - was im übrigen durchaus legitim ist -, dem sie verpflichtet sind. Der Intellektuelle ist dem Politiker insofern überlegen, als er um ihrer selbst willen nach der Wahrheit forschen kann, da ihm Ambitionen anderer Natur abgehen und sein persönlicher Ehrgeiz mit dieser Wahrheitssuche gut vereinbar ist. Er profitiert also von einer gewissen intellektuellen Gedankenfreiheit, die auch die politische Debatte bereichern sollte.

Der Intellektuelle soll also keineswegs - etwa in Gestalt eines Philosophenkönigs - den Politiker ablösen, aber er soll sehr wohl - das ist wichtig - an der Diskussion teilhaben. Es geht hier also gar nicht um ein In-den-Hintergrund-Treten. Es lässt sich lediglich beobachten, dass ihm die Garantien abhanden gekommen sind, die er früher noch hatte: Er kann sich noch so oft in der Tradition der Aufklärung sehen, er ist kein Statthalter der Vernunft. Im übrigen sieht sich der Intellektuelle heute einer Geschichtsentwicklung gegenüber, von der er eigentlich nicht weiss, wohin sie sich bewegt. Seine Aufgabe ist es somit, das, was geschieht, konzeptionel zu erfassen, ohne dass er dafür aber eine Lösung parat hätte, da er ein Ereignis nicht länger als einen Teil eines Gesamtschemas betrachten kann, durch das es erklärbar würde. Aber auch wenn sich die Situation dadurch ein wenig geändert hat, glaube ich nicht, dass man deswegen schon von einem In-den-Hintergrund-Treten sprechen kann.

Auch wenn eine bestimmte Hoch-Zeit des Intellektuellen zu Ende gegangen ist, so hoffe ich doch, dass wir noch nicht am Ende der politischen Einmischung und am Ende einer Diskussionsform angelangt sind, die auch die Menschen erfasst, die keine Berufspolitiker sind. Wie dem auch sei, die Natur und die Intensität dieser Diskussionen sind, abhängig von der jeweiligen Tradition, von einem Land zum anderen sehr unterschiedlich. Für Frankreich hat Tocqueville in "Der Alte Staat und die Revolution" gezeigt, dass die hommes de lettres, die Intellektuellen, seit langem am politischen Leben teilhatten. Sie tun es auch weiterhin, vielleicht sogar stärker als in anderen Ländern, in denen diese Tradition nicht besteht.

Dagegen stelle ich fest, dass es in Deutschland seit einigen Jahren eine hochinteressante intellektuelle Auseinanderset-zung gibt, die bisweilen von besserer Qualität ist als in Frankreich. Ein Beispiel: Die Geschichtskontroverse zwischen Ernst Nolte und Habermas, an der in den 80er Jahren durch die Presse ganz Deutschland Anteil nahm. Auch Martin Walser hat mit seinen kürzlich erfolgten Äusserungen zur Instrumentalisierung der Schoah durch die Medien Anlass zu einer sehr heftigen Auseinandersetzung gegeben. Ausserdem ist es dort in Ansätzen zu einer Debatte über den von Habermas so bezeichneten Verfassungspatriotismus gekommen, wonach es für Deutschland notwendig sei, mit dem Patriotismus Schluss zu machen, um das Modell einer reinen Verfahrensdemokratie zu verkörpern. Habermas wurde von kompetenten Leuten geantwortet, wodurch die Diskussion fortgesetzt wurde. Leider stelle ich fest, dass die Deutschen von ihren Zeitungen viel besser über die französischen Debatten unterrichtet werden als die Franzosen über die deutschen. Dies ist mir einmal mehr aufgefallen, als ich vor kurzem in Deutschland war, wo die Houellebecq-Debatte eine anspruchsvolle Auseinandersetzung über ästhetische Fragen angeregt hat. Natürlich haben wir auch von der Walser-Debatte erfahren, aber nicht erschöpfend oder hinreichend. Keine französische Zeitung oder Fernsehanstalt hat auch nur daran gedacht, mit Martin Walser ein Gespräch zu führen. Was gerade in Deutschland passiert, zeigt, dass die französische Spezifizität des Intellektuellen im Begriff ist, Verbreitung zu finden. Das kann nur gut sein. Die Selbstbezüglichkeit Frankreichs dagegen ist es nicht.

Forum: Die vor kurzem erfolgte Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen François Furet und Ernst Nolte zeigt, dass so manche Debatte auch grenzüberschreitend geführt wird.

A. F.: Das ist richtig. Das Buch ist übrigens sehr interessant.

Forum: Halten Sie die Aussicht auf eine Vereinheitlichung der Universitätsabschlüsse in den Unionsländern für eine Bereicherung oder eine Verarmung der europäischen Kulturtraditio-nen?

A. F.: Ich persönlich bin nicht für eine Vereinheitlichung. Eine bestimmte Auffassung des Universellen führt uns natürlich zur Vereinheitlichung, aber meiner Meinung nach ist das kein glückliches Konzept. Kundera hat einmal geschrieben, dass Europa eine maximale Vielfalt auf minimalem Raum darstelle. Genau darin besteht das europäische Erbe, für das wir Verantwortung tragen, egal ob im Bereich Kultur oder Agrikultur. Im übrigen finde ich den Vergleich zwischen Agrikultur und Kultur interessant. Die Literaten betrachten die Bauern zu Unrecht mit Geringschätzung. Diese nehmen nämlich bisweilen deren Zukunft vorweg. Das Ende der Bauern kündigt vielleicht auch das Ende einer bestimmten europäischen Kultur an. Stets hat sich Europa aus Landschaften grösster Vielfalt zusammengesetzt. Es gibt keine unberührten Landstriche wie in Amerika. Unser Kontinent besteht sowohl innerhalb der Länder als auch von einem Land zum anderen aus ausserordentlich verschiedenen Landschaften und Nutzflächen. Das alles ist im Wandel. Weitreichende Flurbereinigungen sind im Gang, die Landwirtschaft industrialisiert sich, die Menschen verlassen das Land ... im Namen Europas, an dem wir gerade arbeiten. Ich finde, das man damit Europa, dessen Erbe wir angetreten haben, einen Bärendienst erweist.

Ich habe den Eindruck, dass dasselbe im universitären Bereich geschieht: Zum Aufbau Europas zerstört man Europa. Ich finde das schade, denn ich weiss nicht recht, was der Vorteil dieser Vereinheitlichung sein soll. Europa war ein Kontinent, dessen Einheit durch die Verschiedenheit seiner Erscheinungsformen gewährleistet wurde. Dieses Band des Einen und des Vielen scheint heute zugunsten des Einen und zuungunsten des Vielen durchschnitten. Natürlich bin ich der Überzeugung, dass sich dies in gewisser Hinsicht günstig für den Verbraucher auswirken wird. Die guten Studenten können dann, wenn Europa zu Euroland geworden ist, dort, wo sie es wünschen, zur Universität gehen. Aber wozu soll das am Ende führen? Ich bin ein wenig skeptisch. Ich hatte die Gelegenheit, die ersten Folgen einer solchen Situation an der Ecole Polytechnique zu beobachten, an der ich unterrichte und die internationaler werden soll. Die Schule möchte viele ausländische Studenten empfangen, die allerdings die französische Sprache deutlich schlechter beherrschen als die französischen Studenten. Diese Öffnung wird somit also zwangsweise zu Lasten solcher Fächer gehen, wie auch ich sie unterrichte: Philosophie, Geistesgeschichte, Literatur, und bei denen die natürliche Sprache eine zentrale Rolle spielt. So werden also zuallererst die Sprachen unter der Vereinheitlichung zu leiden haben. Nun sind die Sprachen für mich persönlich aber aus der europäischen Kultur nicht wegzudenken. Eine europäische Kultur, die sich ihres sprachlichen Humusbodens entledigte, wäre in meinen Augen notwendigerweise eine ärmere Kultur, d.h. eine immer technischer werdende und immer weniger erdverbundene Kultur.

Forum: Sie stellen aber nicht die Notwendigkeit von zwischenstaatlichen schulischen und universitären Austauschprogrammen in Frage?

A. F.: Nein. Selbstverständlich habe ich nichts gegen diese Austauschprogramme. Sie können allerdings ganz unterschiedliche Formen annehmen. Sobald man eine Sprache in einem Land erlernt, bewegt man sich ja bereits in Austauschstrukturen. Wenn man dagegen reist und die Sprachen, die man lernt und mit denen man umgeht, um ihr literarisches Gedächtnis verkürzt, so wie es heute geschieht, so ist man zwar an vielen verschiedenen Orten, tauscht aber nur wenig aus. Paradoxerweise sind für einen Austausch Bedingungen erforderlich, die bei der heute herrschenden Hektik gefährdet, ja verloren erscheinen: Alle fahren überall hin, aber niemand macht sich die Mühe, die Sprachen der Anderen so zu lernen, wie es wünschenswert wäre. Ich glaube, dass man das Fremde über die Sprache kennen lernt, nicht nur in Zügen.

Forum: Denken Sie, dass die akademischen Austauschprogramme genügen, um eine "Gemeinschaft des Geistes" hervorzubringen?

A. F.: Das hängt davon ab, was man unter "Gemeinschaft des Geistes" versteht. Wenn es sich dabei um die zunehmende Ähnlichkeit der europäischen Bevölkerungen handelt, um eine Annäherung ihrer Denk- und Lebensweisen, dann würde ich vielleicht mit ja antworten. Wenn man damit hingegen ihr Bedürfnis meint, Trennendes zu erkennen, so wäre meine Antwort wohl: Nein. Gemeinschaft des Geistes bedeutet weder ein Ineinanderaufgehen noch eine Verschmelzung. Gemeinschaft beinhaltet auch die Erfahrung und den Gefallen an einer gewissen Trennung, einer gewissen Distanz. Wir sprechen verschiedene Sprachen, was bedeutet, dass etwas Unauflösliches zwischen uns steht.

Forum: Wenn man aber in Bezug auf Europa von der "Gemeinschaft des Geistes" spricht, und besonders zwischen Frankreich und Deutschland, dann denkt man an Madame de Staël, Voltaire, Humboldt und andere Intellektuelle, Philosophen, Musiker und Künstler, die Europa bereist haben?

A. F.: Ja, ein Europa des Geistes ist zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert entstanden. Dann ist es aber zu dem folgenreichen Bruch durch die Romantik gekommen. Wir sind die Erben der Aufklärung und der Romantik. Es geht dabei weniger darum, eine Tradition von uns zu weisen, als darum, beide Traditionen mit ihren Widersprüchen anzunehmen. Die Aufklärung erinnert uns daran, wie wichtig die Freiheit und die Loslösung von der eigenen Geschichte ist, und die Romantik an die Bedeutung der Zugehörigkeit, der Verwurzelung in einer eigenen Geschichte. Sie vermittelt uns auch den Sinn für Pluralität. Gegenüber einer europäischen Homogenisierung, für die Euroland kennzeichnend ist, dürfen wir eben jenen Sinn für die Pluralität nicht vergessen.

Forum: Was sind Ihrer Meinung nach zur Zeit die fruchtbarsten und originellsten Denkströmungen in Frankreich und in Deutschland (oder allgemeiner gesagt in Europa)?

A. F.: Das ist eine sehr heikle Frage. Ich will lieber mit einer Liste von Denkern antworten, die mir sehr wichtig erscheinen. Einige von ihnen leben noch, andere sind inzwischen verstorben. Ich habe Kundera erwähnt: Was er über Europa zu sagen hat, ist von zentralem Wert und wird einen langfristigen Einfluss haben. Ich möchte auch Levinas nennen, der erst vor kurzem verstorben ist. Es gibt übrigens auch noch andere Denker, deren Reichtum wir bei weitem noch nicht ausgeschöpft haben, wie Hannah Arendt, Horkheimer, Adorno. Walter Benjamin auch, oder Heidegger, trotz der Schwierigkeiten, auf die man stösst, wenn man sich heutzutage auf ihn beziehen will. Und da ist dann auch Jan Patocka aus der tschechischen Dissidenz. Das sind Namen, die ich ungeordnet nennen möchte.

Aber ich glaube auch, dass es heute in Europa und in der westlichen Welt ein neu erwachtes Interesse für die politische Philosophie gibt. Mit dem Ende des Marxismus hat man verstärkt die Klassiker des Liberalismus, der Republik und der Demokratie wiederentdeckt. Tocqueville, Benjamin Constant, Hobbes, Spinoza u.a. wurden neugelesen. Die Denker des 20. Jahrhunderts wie Leo Strauss waren schon immer fleissige Leser. Die politische Philosophie erscheint mir heute also als ein sehr regsamer Zweig des modernen Denkens. Die von ihr aufgeworfenen Problemstellungen sind sowohl gelehrt als auch aktuell, da sie in der Frage bestehen, in was für einer Zeit wir eigentlich leben und was das relative Ende der Nationen bringen wird. In einer nationalen Republik waren die Individuen um eine bestimmte Vorstellung der gemeinsamen Welt, um ein Erbe und ein Kollektivprojekt herum vereint. Wird dies immer noch der Fall sein können in einer postnationalen Einheit? Sind wir nicht vielmehr im Begriff, in ein anderes Zeitalter der Republik und der Demokratie einzutreten, das vielleicht ein Zeitalter des Verfahrens ist, eines, wo der Staat neutral wird und nur noch zur Aufgabe hat, zwischen den verschiedenen Interessen und Identitäten seiner Mitglieder zu schlichten. Diese Frage stellt sich uns allen und sie wird glücklicherweise von der politischen Philosophie begleitet. Gleichzeitig - wo ich schon Heidegger erwähnt habe - ist es auch weiterhin meine Überzeugung, dass die grosse Fragestellung des 20. Jahrhunderts eine Frage der Grenzen ist, denn man kann nicht mehr länger mit einer Fortschrittsideologie leben. Werden wir dazu in der Lage sein, unsere eigene Macht zu beherrschen? Um mit den Worten eines bedeutenden Philosophen wie Hans Jonas zu sprechen: Wird es uns gelingen, vom "Prinzip Hoffnung" Abschied zu nehmen, das uns seit dem Beginn der Moderne geleitet hat, zugunsten des "Prinzips Verantwortung"? Das sind die Fragen, die sich uns allen stellen und die - das sei noch einmal gesagt - von der Philosophie getragen werden.

Eigene Übersetzung des Forum


Veröffentlichungen

Editions Gallimard
- "L'ingratitude" - NRF, 1999.
- "La sagesse de l'amour".
- "La mémoire vaine. Du crime contre l'humanité".
- "Le mécontemporain. Péguy, lecteur du monde moderne".
- "Comment peut-on être croate ?".

Editions du Seuil
- Le nouveau désordre amoureux"
- en collaboration avec Pascal Bruckner.
- "Ralentir mots-valises !".
- "Au coin de la rue, l'aventure"
- en collaboration avec Pascal Bruckner.
- "Le juif imaginaire".
- "Le petit fictionnaire illustré".
- "L'avenir d'une négation
- Réflexion sur la question du génocide".
- "L'humanité perdue - Essai sur le XXe siècle".

Editions Denoël
- "La réprobation d'Israël"



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