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• Vergangenheit und Zukunft der deutsch-französischen Beziehungen
Teil I : Vergangenheit
"Heute ist die deutsch-französische Freundschaft Wirklichkeit geworden. Wir brauchen nicht zu befürchten, aus einem Traum zu erwachen. Aber wir sollten diese Freundschaft auch nicht für eine Selbstverständlichkeit halten, eine Art von politischem perpetuum mobile, das die europäische Einigung automatisch vorantreibt, ohne dass wir noch allzuviel Energie dafür aufbringen müssten. (…) Nach Jahrzehnten der Kooperation laufen Deutsche und Franzosen heute Gefahr, das Ausmaß und die Tiefe ihrer Verständigung zu überschätzen. Die deutsch-französischen Beziehungen drohen, zum Opfer ihres eigenen Erfolges und des Fortschreitens der Geschichte zu werden. (…) Wir müssen erkennen, dass sich (…) nicht unsere Ähnlichkeiten ähneln, sondern unsere Unterschiede." ©1999
Prof. Dr. Wolf LEPENIES - Prof. für Soziologie an der Freien
Universität Berlin


Nicht nur das Erinnern, auch das kluge Vergessen - Harald Weinrich hat darauf aufmerksam gemacht - ist eine Kunst. Die Vergesslichkeit aber bleibt im Alltag ein Laster und in der Politik eine Gefahr. Ich erinnere an den Glücksfall der europäischen Geschichte in diesem Jahrhundert: die zur Freundschaft gewordene Aussöhnung der Deutschen und der Franzosen, die unseren Eltern noch als unmöglich, unseren Grosseltern als unvorstellbar erschienen wäre. Daran zu erinnern, ist umso notwendiger, als sich hinter der Routine der deutsch-französischen Beziehungen Verunsicherungen zwischen unseren beiden Ländern verstärken, die den europäischen Einigungsprozess nicht unberührt lassen.

Kultur, Freundschaft und Routine

In ihrer gemeinsamen Geschichte verbindet Frankreich und Deutschland eine lange Kette von Kompensationen, in denen Kulturleistungen die Schmach verlorener Kriege tilgen sollten - so militant, dass in beiden Ländern der neue Krieg oft genug auf dem Feld der Kultur vorausgeahnt und vorbereitet wurde. Dies gilt für Deutschland nach der verlorenen Schlacht von Jena und Auerstedt, dies gilt für Frankreich nach der Niederlage von Sedan. Es gilt für das Deutschland nach Versailles.

Dass es weit weniger für jenes Frankreich galt, das 1940 Hitlers Blitzkrieg erlag, ist für die Franzosen bis heute ein Stachel in ihrer Erinnerung an die étrange défaite. Die Erschöpfung Frankreichs zeigte sich damals in seiner defensiven Geistespolitik noch deutlicher als im militärischen Bereich, und die langanhaltende Verdrängung des wahren Ausmasses der collaboration in Frankreich rührt nicht zuletzt von der als beschämend empfundenen Einsicht her, dass nach der Kapitulation die französische Kultur im Zeichen Vichys, dieser "mélange de terreur blanche, de bibliothèque rose et de marché noir", wie Brunschwicg sie einmal nannte, zum Aufbau eines wirksamen Revanchepotentials nicht mehr in der Lage war.

Kultur als Revanche - dieses heimliche, bis heute virulente Motiv deutsch-französischer Beziehungen verlangte in beiden Ländern stets Rechtfertigung oder Tarnung von jenen, die Grund hatten, mit dem 'Erbfeind' zu paktieren. In seinen "Betrachtungen eines Unpolitischen", die er im ersten Weltkrieg schrieb, hat Thomas Mann in der Auseinandersetzung mit Heinrich Mann, dem 'Zivilisationsliteraten', die deutsch-französische Kulturkonkurrenz als unvermeidlichen Bruderzwist im europäischen Haus enthüllt.

Gerade deshalb bildeten sich zwischen unseren beiden Nationen oft geistige Wahlverwandtschaften von schmerzender Intensität heraus. Aber es waren in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg nicht genügend Deutsche, es waren zu wenige Franzosen, die die Hoffnung teilten, durch die Vereinigung Frankreichs und Deutschlands würden Europa und die Welt erlöst werden.

Heute ist die deutsch-französische Freundschaft Wirklichkeit geworden. Wir brauchen nicht zu befürchten, aus einem Traum zu erwachen. Aber wir sollten diese Freundschaft auch nicht für eine Selbstverständlichkeit halten, eine Art von politischem perpetuum mobile, das die europäische Einigung automatisch vorantreibt, ohne dass wir noch allzuviel Energie dafür aufbringen müssten. Durch vielhundertjährige Entfremdung, schrieb Annette Kolb, Tochter einer französischen Mutter und eines deutschen Vaters, habe sich zwischen Deutschen und Franzosen ein unparadiesischer Stand der Unschuld ergeben: Sie seien derart verschieden, dass sie es nicht einmal merkten. Nach Jahrzehnten der Kooperation laufen Deutsche und Franzosen heute Gefahr, das Ausmass und die Tiefe ihrer Verständigung zu überschätzen. Die deutsch-französischen Beziehungen drohen, zum Opfer ihres eigenen Erfolges und des Fortschreitens der Geschichte zu werden.

Von diesem Befund ausgehend, skizziere ich im folgenden einige Vorschläge für eine neue Funktionsbestimmung der deutsch-französischen Beziehungen. Ausdrücklich spreche ich nicht von 'Erneuerung' oder 'Auffrischung', weil ich der Meinung bin, dass die Schwäche der Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern seit langem in ihrer Selbstbezüglichkeit liegt. Nach dem Fall des Kommunismus und an der Schwelle zum neuen Jahrhundert aber können die deutsch-französischen Beziehungen kein Selbstzweck mehr sein. Ihre Rolle muss im Blick auf das weiter zusammenwachsende Europa und eine Welt unter dem Druck der Globalisierung neu bestimmt werden.

Zunächst plädiere ich für eine Entroutinisierung der deutsch-französischen Beziehungen. Diderot beschrieb es einmal als die Aufgabe der Philosophie, das Staunen aufzuheben - zur Philosophie der deutsch-französischen Beziehungen heute muss es gehören, wieder staunen zu lernen. Wir müssen erkennen, dass sich - um das schöne, paradoxe Wort von Claude Lévi-Strauss aufzunehmen - nicht unsere Ähnlichkeiten ähneln, sondern unsere Unterschiede.

Wir müssen erneut lernen, unsere Differenzen ernstzunehmen, um aus ihnen produktive Motive gemeinsamen Handelns zu entwickeln. Immer wieder gilt es daran zu erinnern, dass im 18. Jahrhundert Rousseau wie auch Herder nicht jubelten, sondern einen Warnruf ausstiessen: "Il n'y a que des Européens!" Wenn es eines Tages nur noch Europäer gibt, wird es kein Europa mehr geben.

Auf dem Feld der Politik heisst dies für Deutsche wie für Franzosen, auch nach Jahrzehnten erfolgreicher Zusammenarbeit das Gewicht ihrer nationalen 'Geschichten' nicht zu unterschätzen. Dass die Geschichte alles andere ist als das nun einmal Geschehene und damit Abgetane, sondern dass sie eine miteinander geteilte Erfahrung ist und damit ein aktueller oder jedenfalls abrufbarer Handlungsantrieb, hat sich in jüngster Zeit gerade in den deutsch-französischen Beziehungen gezeigt. Welche Gefahren, aber auch welche Chancen für unsere beiden Völker damit verbunden sind, will ich am Beispiel des Schwarzbuch des Kommunismus verdeutlichen.

Rechthaberei und Sensibilität

Man mag es kaum für einen Zufall halten, dass zeitgleich mit dem Prozess Papon in Frankreich die Veröffentlichung des Livre noir du Communisme, des Schwarzbuchs des Kommunismus, erfolgte. Aus deutscher Sicht ergibt sich damit die Möglichkeit, ‘unseren’ eigenen ‘Historikerstreit’ in eine vergleichende Perspektive zu rücken. In Frankreich entfachte das Schwarzbuch Auseinandersetzungen von solcher Heftigkeit, dass sofort von einer ‘querelle française’ die Rede war. Wieder einmal betonten Franzosen und Deutsche die Besonderheit ihrer nationalen Debatten, während gerade deren Vergleich und deren Zusammenschau in einem grösseren europäischen Zusammenhang die entscheidenden Einsichten zu liefern vermochte.

Für die Heftigkeit des innerfranzösischen Streits lassen sich verschiedene Ursachen anführen. Die erste ist allgemeiner Natur: Die französische Intelligentsia ist nun einmal leicht erregbar und verfügt über eine nicht zu unterdrückende Fähigkeit, sich im Streit über jedes beliebige Thema aus dem Stand heraus in miteinander verfeindeten chapelles zu organisieren. In Frankreich gewinnt darüber hinaus die Abrechnung mit dem Leninismus-Stalinismus und seinen Folgen eine besondere Schärfe, weil hier als einzigem demokratischen Land noch die Kommunisten an der Regierung beteiligt sind. Schliesslich steht die französische Geschichte selbst vor Gericht, wenn behauptet wird, dass die radikale Abrechnung mit dem Kommunismus nicht nur die grosse Oktoberrevolution als ein verbrecherisches Komplott entlarve, sondern damit auch die ‘Mutter aller Revolutionen’, die Französische Revolution von 1789, entlegitimiere. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch der deutsche Historikerstreit neue Konturen und Nuancen.

In einer längeren Fussnote seines späten Hauptwerks Le Passé d’une illusion. Essai sur l’idée communiste au XXe siècle hatte sich François Furet bekanntlich mit den Thesen Ernst Noltes in kritischer Zustimmung auseinandergesetzt. Er rechnete es Nolte als Verdienst an, ein Tabu gebrochen zu haben, als er sich nicht an das Verbot hielt, zwischen Kommunismus und Faschismus, zwischen Stalinismus und Faschismus Vergleiche zu ziehen. Furet teilte die Auffassung, zur Erklärung beider Ideologien in ihrer Entstehung und Entwicklung bedürfe es einer historisch-genetischen Methode, der gegenüber der rein formale Strukturvergleich der Totalitarismusforschung unzureichend sei. Kritisch und ‘traurig’ merkte Furet an, dass Nolte die Wirkung seiner Thesen dadurch entscheidend abgeschwächt habe, dass er in den Juden die organisierten Gegner Hitlers sah. Ein Briefwechsel mit Ernst Nolte folgte, der durch Furets frühen Tod jäh abbrach. Die lange Fussnote und die wenigen deutsch-französischen Briefe aber erlauben es, den Historikerstreit aus einem Blickwinkel zu betrachten, der in der innerdeutschen Debatte eine zu geringe Rolle spielte: Es geht um die Darstellungsweise historischer Tatbestände, es geht um die in Deutschland chronisch unterschätzte Bedeutung von Tonfall und Takt.

Auch wenn Furet sich das Plädoyer für die historisch-genetische Methode als Voraussetzung des Verstehens von Kommunismus und Nationalsozialismus zu eigen macht, wendet er sich gegen eine Ersetzung wahrer Ursachenforschung durch Chronologie. Dass Lenin früher an die Macht kam als Mussolini und weit früher als Hitler, rechtfertigt es noch nicht, dem Faschismus und erst recht nicht dem Nationalsozialismus einen reaktiven Charakter zuzuschreiben, der gewollt oder ungewollt, ein gewisses Verständnis wecken muss und die Nähe zur Rechtfertigung gar nicht vermeiden kann. Das Argument ist bereits 1939/40 bei Drieu la Rochelle vorformuliert und dazu rassistisch verstärkt: Weil im Deutschen immer auch ein Slawe stecke, nehme seine Reaktion auf den russischen Totalitarismus die gleichen intensiven Formen an.

Von der Imitationshypothese distanziert sich Furet mit höflichen Worten und entschiedenen Argumenten. Der Faschismus ist keine Antwort auf den Kommunismus. Vielmehr sind beide Ideologien - der Kommunismus als die Ideologie des totalitären Universalismus wie der Faschismus, bzw. der Nationalsozialismus als die Ideologie des totalitären Partikularismus - Abwehrreaktionen gegen die bürgerlich-liberale Welt, gegen das ‘demoliberale Jahrhundert’, das für Mussolini wie für Charles Maurras 1789 beginnt. Hinzu kommt, dass der Judenhass älter ist als die Oktoberrevolution und dass die deutsche Rechte nicht auf den Kommunismus warten musste, um die Demokratie zu verabscheuen. Furet macht in wenigen Sätzen deutlich, dass der historisch-genetischen Methode Noltes eine verkürzte Geschichtsbetrachtung zugrundeliegt, die beispielsweise völlig aus dem Blick verliert, welch formierende Rolle für die deutsche Rechte und insbesondere für die Nationalsozialisten die Tradition des antisemitisch verschärften Kulturpessimismus spielte, die weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht.

Wenn es sich in der von Ernst Nolte als Schulterschluss missverstandenen Debatte zwischen ihm und François Furet lediglich um die Auseinandersetzung zweier Historiker handeln würde, wäre ihr Ertrag beträchtlich genug. Es handelt sich aber um mehr: Es geht um die Konfrontation zweier historiographischer Temperamente, deren Verschiedenheit sich aus ihrer Einbettung in die unterschiedlichen nationalen Traditionen der deutschen und der französischen Geschichtsschreibung erklärt. Furet verfügt über den gelassenen Blick der longue durée, über jenes historische Bewusstsein, das in Frankreich noch heute das Mittelalter wie selbstverständlich miteinschliesst und einer Erinnerungskultur anhängt, die bis in die Gegenwart hinein über alle Parteigrenzen hinweg identitätsstiftend wirkt. Der gemeinsamen, bis in ferne historische Zeiten zurückreichenden Erinnerung in Frankreich entspricht in Deutschland der nichtendenwollende Zwang zur Aufarbeitung der jüngsten Geschichte, eine Zwangsarbeit, die selten identitätsstiftend wirkt, sondern in der Regel die Grenzen der politischen Lager verfestigt. Obwohl gerade Ernst Nolte die deutsche Geschichte in das Schreckenspanorama des europäischen Bürgerkrieges einbetten und damit im gewissen Sinne entnationalisieren und entemotionalisieren wollte, wirkt er gegenüber der selbstkritischen Gelassenheit Furets immer aufgeregt und apoplektisch. Durch Mangel an Haltung, unzureichende Sensibilität und fehlende Präzision der Sprache - "Le vocabulaire employé doit éviter l'ambiguïté", merkt Furet dazu an - entwerten sich derart auch bedenkenswerte Einsichten zum schiefen und falschen Blick. In Deutschland haben wir Erfahrungen damit: Es ist das Jenninger-Phänomen.

François Furet, ein französischer Historiker, hat es den Deutschen ermöglicht, sich mit dem Kommunismus und seinen Folgen ähnlich intensiv auseinanderzusetzen wie mit dem Nationalsozialismus. Diese Auseinandersetzung ist durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik notwendig geworden: Zu unserer gemeinsamen deutschen Geschichte gehört jetzt auch der Kommunismus. Von Furet kann man lernen, wie man diese Geschichte schreibt, ohne sich durch die nationalsozialistische Vergangenheit überwältigen und sich von ihr nicht nur die Fragestellungen, sondern auch die Antworten diktieren zu lassen.

Wenn man den chronologisch korrekten, moralisch unannehmbaren Satz formuliert, dass der Gulag Auschwitz voranging, begibt man sich der Möglichkeit, der in Buchenwald verscharrten Opfer des stalinistischen Terrors zu gedenken, ohne ihre Leiden gegenüber den Millionenmorden der nationalsozialistischen Konzentrationslager herunterzurechnen. Erst ein französischer Historiker wie François Furet und ein französisch schreibender Schriftsteller wie Jorge Semprun haben uns Deutschen die Möglichkeit eröffnet, die beiden Totalitarismen, die unsere jüngste Geschichte prägten, den Nationalsozialismus wie den Kommunismus, ohne wechselseitige Frageverbote zu analysieren. Und sie haben uns, was vielleicht noch wichtiger ist, zu dem Eingeständnis ermutigt, das Unverstehbare nicht verstehen zu können. Furet hat gegenüber denen, die sich darauf versteifen, nach dem rationalen Kern des Antisemitismus zu suchen, darauf beharrt, dass hier ein unauflösbarer Rest an Irrationalismus bleiben wird. Ein Franzose hat darauf bestanden, um der Vernunft willen nicht zu vergessen, dass das Vernunftverstehen seine Grenzen hat.



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