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• Deutschland und Frankreich und die Frage
nach den interkulturellen Symbolwelten
I"Unter den Linden bin ich immer gerne gegangen. Am liebsten, du weißt es, allein. Neulich, nachdem ich sie lange gemieden hatte, ist mir die Straße im Traum erschienen. Nun kann ich endlich davon berichten"
Christa Wolf
© 2001
Andreas RITTAU- Dozent an dem Germanistischen Seminar
an der oberelsässischen Universität


Das wichtigste symbolhafte Ereignis der zurückliegenden Jahre ist sowohl vor deutsch-französischem als auch europäischem und transatlantischem Hintergrund der Fall der Berliner Mauer. Der als Motto vorangestellte Auszug aus Christa Wolf ist eine Art Echo auf dieses Ereignis. Er verweist auf einen Ort von prestigeträchtiger Symbolik im traditionell-geläufigen Begriffssinne und schildert einen Gang an einen vertrauten Ort, der sich plötzlich aus politischen Gründen verwandelt hat. Es musste erst Zeit verstreichen, um sich den Ort aufs Neue anzueignen und eine neuerliche Vertrautheit zu begründen. Über diese persönliche Erfahrungsschilderung lässt sich der vorliegende Artikel weniger mit einem allgemeingültigen Tatbestand - einem Spaziergang Unter den Linden, die in den Augen ganz Europas wieder zu einem Berliner Stadtsymbol geworden sind - einleiten, als durch ein Erfühlen einer Symbolavenue und ihrer symbolischen Akzeptanz im Traum.

Von den verschiedenen Ansätzen interkultureller Forschung - Fragebogen, Vergleich, Vernetzung - wurde hier als Ausgangspunkt auf das Symbolische im modernen und weiten Begriffsverständnis zurückgegriffen. Über das Symbol lässt sich nämlich eine deutsch-französische Gegenüberstellung in den unterschiedlichsten Bereichen, vom Amtlich-Offiziellen (die Fahne zum Beispiel) bis hin zum Alltäglichen (Schaufenster) vornehmen. Darüber hinaus begünstigt das Symbolische auch eine persönliche Betrachtungsweise.

In Frankreich wie in Deutschland sind die Symbole ihrer jeweiligen nationalen Identität und die Geschichte der Symbole Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Worin jedoch bestehen die deutsch-französischen Symbole?

Joseph Jurt hat versucht, die symbolischen Wertvorstellungen des Identitätsbewusstseins in den beiden Ländern zu definieren : den politischen Willen, aber auch die Kulturtradition (z.B. Académie française) und den gemeinsamen Besitz eines Erinnerungserbes in Frankreich. Die Deutschen hätten demnach zur Zeit der Konfrontation mit dem napoleonischen Besatzungsregime begonnen, ihre nationale Identität über die Sprache und die Kultur aufzubauen, später sei es dann der Föderalismus, der Deutschland prägt, und das Gefühl der Stärke, einer Wirtschaftslogik vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen Globalisierung. Was die beiden Länder betrifft, so werde eine Annäherung über Europa versucht (Europabrücke von Kehl). Joseph Jurt war es auch, der eine erschöpfende Erfassung der neuen Symbole des wiedervereinigten Deutschlands vorgeschlagen hat. Er hat dafür den Mauerfall gewählt, das Brandenburger Tor und seine Geschichte, die Bundesfahne, die Wirtschaftssymbole, die Nationalhymne und den Verfassungspatriotismus. Insgesamt fasst er den Symbolbegriff ausdrücklich im Sinne einer semantischen Funktionalität im Rahmen des sogenannten expliziten Symbolträgers (Denkmäler, Hymnen, Fahnen) auf.

In diesem Artikel geht es darum, die gegenwärtigen, impliziteren Symbolträger darzustellen, die sich im Alltagsleben unbewusst (Straßennamen) bemerkbar machen bzw. im Begriff der Symbolwerdung (die Reichstagskuppel) sein können, wobei, ohne auf die klassischen Symbole zurückzugreifen, der deutsch-französische Blickwinkel berücksichtigt werden soll.

Die hier ausgewählten Symbole heben sich bewusst von der traditionellen Definition, d.h. von lexikalisierten Symbolen wie Fahne, Adler und Hahn ab. Das bedeutet, dass auf der Grundlage der hier beigefügten Beispiele ein Sinngefüge abgeleitet werden kann, das sich in den überdeterminierten Bildern verbirgt: Die beigefügten visualisierten Symbolbilder sind sinnhaft, mehr noch: sie sind selbst sinnleitend. Es geht dabei weniger um die Ablehnung einer Kategorie bestehender Symbole, sondern um Kategorien, die für den vorliegenden Artikel, in dem nach neuen, zeitgenössischen Orientierungspunkten gesucht wird, unangemessen waren. Das Symbol ist derart komplex, dass man den Vorwurf Baudouin Decharneux' gegen die Geisteswissenschaften ohne weiteres hinnehmen kann, die durch die Inbesitznahme des Symbols und "dadurch, dass sie sich auf ihr jeweiliges Fachgebiet zurückgezogen haben, nacheinander sein Erbe verschleudert" hätten . Wenn man sich im Falle Deutschlands der alten Symbole bedient, führt das nur dazu, dass man in die alten festgefahrenen Klischeevorstellungen (Adler) verfällt. Gleichwohl scheinen die ausgewählten Themen deswegen noch nicht schwammig oder verkürzend. Mit den alten Symbolen, deren Überschusspotenzial sich durch die häufigen Wiederholungen abgeschliffen hatte, war eine derart vielfältige Übermittlung in den Sinnschleifen schlicht nicht möglich.

Die Einführung einer neuen Symboldimension ermöglicht im Unterschied zu den fest kodierten, alten Symbolen Erfindungsgabe und Phantasie. Goethe ist in diesem Zusammenhang z.B. mehr als nur ein einfacher Dichter; als Mittler, der auf der Suche nach einer "metanationalen Weltliteratur" aus Weimar ein Zentrum des Kulturaustausches gemacht hat, wo sich Künstler und Gelehrte (Madame de Staël) einfanden, wird er zu einem möglichen Sinnbild eines Gesamteuropa gegenüber offenen Kosmopolitismus. Außerdem gibt es da noch den europäischen Einfluss, der von seinem Werk selbst ausgeht: Ihm ist es gelungen, sich "aus spezifisch deutschen Voraussetzungen über das Nur-Deutsche" zu erheben. Genau diese Aspekte sollen von einer Zusammenstellung moderner Sinnbilder angesprochen und respektiert werden.

Um der Phantasie die Gelegenheit zu bieten, sich ein Bild zu machen und zwischen den hier abgebildeten Symbolen persönliche Verbindungslinien zu ziehen, dürfen sie nicht zu zahlreich sein und müssen um der Suggestivkraft willen ohne lange historische Ausführungen auskommen:

Als Symbol für den vorliegenden Artikel wurde ein Gemälde von Rainer Fetting (*1949) mit dem Titel Sonnenuntergang gewählt, weil darauf die sowohl der deutschen als auch der französischen Fahne gemeinsamen Farben zu sehen sind, das beiden gemeinsame Rot bildet den Hintergrund, links davon blau für Frankreich und Gold für Deutschland. Die drei so assoziierten Farben werden hier als mottoähnliche Einleitung den deutsch-französischen Bildsymbolen der zeitgenössischen Epoche vorangestellt (Abbildung 4). Es handelt sich hierbei also nicht um rein traditionelle Symbole, sondern vielmehr um eine improvisierte Bilanz im Rahmen der Interkulturalität.

Darauf folgt der Baum der Erkenntnis, der dem Magazin Thema des deutsch-französischen Senders ARTE entnommen ist: ein Mensch, dessen Körperstamm, dessen Arme und Hände einen Baum der Erkenntnis darstellen, an dem bunte Bänder als Symbol für die mannigfaltigen Aktivitäten flattern. 1999 sahen dieses Magazin, dessen Vorspann durchaus zu den modernen Symbolen des hier behandelten Themas (1) zählt, allabendlich bis zu eineinhalb Millionen Fernsehzuschauer.

1999 wurde der 250. Geburtstag Goethes (*1749) feierlich begangen. In allen Auslagen der Büchereien prangte sein Porträtbild. Deswegen wird er als Symbol für ein Kulturdeutschland betrachtet.

Die Brücke von Kehl ist ebenfalls ein aktives Europasymbol. Der ehemalige Vorposten Ludwigs des XIV hatte schon immer große Beliebtheit genossen (3), heute markiert er aber nicht länger eine Trennlinie, sondern ist als Verbindungspunkt ein Zeuge des intensiven, täglichen Hin und Her zwischen den beiden Städten Straßburg und Kehl und ein bedeutender, moderner Transitort ohne Zoll innerhalb des Schengener Raumes. Diese riesige Brücke tritt uns auf der Abbildung als ein Symbol der alltäglichen Austauschbeziehungen entgegen.

Das Frankreich-Haus in Berlin kann in seiner Eigenschaft als Ort vielfältiger Initiativen (Buchhandlung, Kino, Ausstellungen, Presse) als Sinnbild für die Präsenz Frankreichs in Berlin gelten. Das Photo soll ein Pendant zu der deutschen Buchhandlung in Paris (gegenüber dem Centre Pompidou) darstellen, und das Deutsche in Paris und das Französische in Berlin wurden hier also assoziiert (5+7).

Die Reichtstagskuppel (1999) und die Pyramide des Louvre (1989) weisen beide eine bewusst moderne Bauweise auf. Von der Kuppel Norman Fosters aus, die dem nunmehr transparenteren Gebäude ein neues Gepräge verleiht, überschaut man Gesamtberlin und seine Baustellen. Die Pyramide Peis, die bei ihrem Entstehen für einiges Aufsehen gesorgt hatte, zieht viele Touristen an, die vor dem Eintritt lange Schlage stehen. Die Ansicht ist bewusst modern gehalten, wodurch die spiralenförmigen Linien, das Zusammenspiel aus Glas und Metall verstärkt werden und Außen und Innen austauschbar werden. Für die Öffentlichkeit hat die Kuppel bereits Kultstatus, was auch für die Pyramide des Louvre gilt (11).

Der verhüllte Reichstag: Er wurde 1894 errichtet, 1933 angezündet, 1945 bombardiert und 1995 für zwei Wochen von Christo in riesige silberne Plastikbänder gehüllt. Über dieses Bild des Reichstags in der wiederentdeckten Stadt Berlin, das um die Welt gegangen ist, ist viel Tinte geflossen: ein ästhetisches Bild und ein Verweis auf die Geschichte (9).

Eine weitere deutsch-französische Parallele: Vor dem Hintergrund einer geographisch genauen Wiedergabe der beiden Länder zeichnet sich der von Christo verhüllte Pont Neuf ab. Auf der anderen Seite besetzt der Reichstag die Bildmitte. Beide Bilder sind in drei Teile gegliedert: Himmel, historischer Bau und der Pont Neuf, dem in der Deutschlandkarte eine versammelte Menschenmenge entspricht, wie sie auch auf französischer Seite auf dem Pont zu sehen ist. Es handelt sich dabei um das Titelblatt des Adressbuch der deutsch-französischen Zusammenarbeit, das ebenfalls ein zeitgenössisches deutsch-französisches Symbol darstellt, das zusammen von dem französischen Außenministerium und dem Auswärtigen Amt in Deutschland herausgegeben wird (8).

Das Brandenburger Tor erinnert wiederum an den Auszug von Christa Wolf. Hier sieht man eine Bildmontage des Tores, das augenblicklich (2000/2001) restauriert wird. Das Tor ist auf dem Bild ohne die Baugerüste abgebildet, und im Hintergrund sieht man perspektivisch abgesetzt den Pariser Triumphbogen und den Eiffelturm. Ein Bild mit einem augenzwinkernden Hinweis, das durch den Werbezug für die Berliner Zeitung und ein Telekomunternehmen eine zusätzliche Bedeutungsschwere erlangt. Oben erhebt sich wieder aus dieser Zusammenstellung die Quadriga als eine beruhigende Ansicht der Identifikation. Durch diese phantasievolle Überlagerung verschiedener Baudenkmäler wird dieses Photo zu einem Modell für das Deutsch-Französische schlechthin (12).

Mit einer großen Ausstellung, die zuvor in einer erweiterten Fassung im Martin-Gropius-Bau in Berlin zu sehen war, wurden die beiden Nationen 1998 im Petit Palais geehrt: Mit Marianne und Germania: ein Jahrhundert deutsch-französischer Passionen (1789-1889) werden die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich über ein Jahrhundert nachgezeichnet. In der Ausstellungen standen vor allem Schriftsteller, Dichter und Philosophen in Form von Büsten, Porträts, Manuskripten, Zeichnungen, Kunstwerken und Allegorien (Marianne und Germania) im Mittelpunkt. Die Journalisten der Tageszeitung Le Monde, Frédéric Edelmann und Emmanuel de Roux, haben ihren Eindruck folgendermaßen zusammengefasst: "die scheibchenweise, auf verschiedene Räume verteilte Ausbreitung eines bücherzentrierten Wissens" (7.11.1997). Einmal mehr hat sich die Vergleichsziehung auf eine literarische, geschichtsnahe Gegenüberstellung ohne zeitgenössischere Neuaneignung beschränkt. Heute wird Germania für den Express vom 4. November 1999, dessen Titelblatt anbei abgebildet ist, durch Claudia Schiffer repräsentiert. Sie stammt aus Düsseldorf, der Geburtsstadt Heinrich Heines und lebt zur Zeit in Paris. Marianne wiederum findet ihre Repräsentationsfigur in Laetitia Casta, die auf dem Titelblatt des Spiegel vom 29. Mai 2000 in der Gestalt Europas auftritt (2). Bis in unsere Gegenwart hinein ist die Marianne-Büste, die zusammen mit dem Photo des Staatspräsidenten in jedem Bürgermeisteramt in Frankreich zu sehen ist, ein wirkliches Nationalsymbol, das außerdem auch als Briefmarkenmotiv dient. Immer wieder wurde diese Büste der jeweiligen Epoche angepasst: Brigitte Bardot, Mireille Mathieu, Catherine Deneuve und Sophie Marceau waren in den letzten dreißig Jahren die Vorgängerinnen von Laetitia Casta. Die Wahl wird staatlicherseits vorgenommen, da keine offizielle Büste gesetzlich vorgeschrieben ist. Gegenüber der Popularität der republikanischen Repräsentationsfigur Marianne, die in dem Alltagsleben der Franzosen durchaus präsent ist, ist die Gestalt und das Symbol Germania, ja sogar deren Existenz einer Mehrheit der Deutschen schlicht unbekannt.

Panthéon und Walhalla (10+13): Welcher Kontrast entsteht zwischen den beiden Ländern, wenn man die Denkmäler betrachtet, die der bedeutenden Männern der beiden Nationen symbolisch als letzte Ruhestätte dienen! Das Panthéon in Paris, das zur Abgrenzung von den umliegenden Wohnhäusern lediglich mit einem kreisförmigen Kopfsteinpflaster umgeben wurde, fügt sich, einem griechisch-lateinischen Baustil mit Dom und Kolonnaden folgend, nahtlos in das Quartier Latin des 5. Arrondissements. Es gehört zum Alltag des Viertels, und wer sich irgendwann im Laufe eines Jahres dorthin begeben möchte, kann dies ohne Schwierigkeiten tun. Die deutsche Denkstätte aus strahlendweißem Carrara-Marmor, die Walhalla, thront als Nachahmung eines griechischen Tempels hundert Meter oberhalb der Donau inmitten der Natur unweit von Regensburg. Dieser in den Jahren 1830 bis 1842 errichtete "Tempel" ist in Deutschland kaum bekannt und wird selbst in den Touristenführern selten abgebildet. Es finden sich dort 122 Büsten der großen Männer Deutschlands. Auch wenn man sich in beiden Fällen für einen griechisch-lateinischen Bauhintergrund entschieden hat, liegt das deutsche Panthéon, die Walhalla, nicht in einem geographischen Landeszentrum, weder in Bonn noch in Berlin und steht so sinnbildlich für den deutschen Föderalismus, während das Panthéon natürlich das zentralistische Frankreich verkörpert. Das ursprünglich als Kirche geplante Panthéon wird im Jahre 1885 anlässlich der Beisetzung Victor Hugos zu einem weltlichen "Tempel". Die am häufigsten zitierten Persönlichkeiten sind Voltaire, Rousseau, Hugo, Zola sowie Jean Jaurès, Jean Moulin und Malraux. In diesem Zusammenhang bildet aber im Grunde die Gegenüberstellung durch das Photo selbst zwischen Zentralismus und Föderalismus das eigentliche Hauptanliegen. Deswegen, und nicht aus historischen Erwägungen, wurden sie hier als Symbol ausgewählt.

Im Grunde lassen sich die hier ausgewählten Symbole in drei Kategorien unterteilen: eine visuelle Kategorie (Gemälde, Zeichnungen, Schaufenster, Zeitungen), eine Kategorie der Kulturorte (Kuppel, Pyramide) und eine Kategorie kultureller Events (Christo). All diese Symbole wurden ausgewählt, um über den Bereich des Informativen hinaus im Streben nach einer räumlichen Verwirklichung des persönlichen Ausdrucks sinnstiftend zu wirken. "Gibt es zwischen der Symbolüberhöhung und seiner Verkürzung nicht auch Raum für einen interdisziplinären Mittelweg, der sich angesichts des sich uns darbietenden Hypothesenknäuels durch eine gewisse Bescheidenheit auszeichnen könnte?" (Decharneux).

Zur Interpretation der vorliegenden Bilddokumente, die als eine persönliche Symboldeutung gehandhabt werden sollte, sollte man sich "in die verborgenen Schichten der Seele" hinabbewegen.

Übersetzung Forum (MT)



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