Das wichtigste
symbolhafte Ereignis der zurückliegenden Jahre ist sowohl vor
deutsch-französischem als auch europäischem und transatlantischem
Hintergrund der Fall der Berliner Mauer. Der als Motto vorangestellte
Auszug aus Christa Wolf ist eine Art Echo auf dieses Ereignis. Er
verweist auf einen Ort von prestigeträchtiger Symbolik im traditionell-geläufigen
Begriffssinne und schildert einen Gang an einen vertrauten Ort,
der sich plötzlich aus politischen Gründen verwandelt
hat. Es musste erst Zeit verstreichen, um sich den Ort aufs Neue
anzueignen und eine neuerliche Vertrautheit zu begründen. Über
diese persönliche Erfahrungsschilderung lässt sich der
vorliegende Artikel weniger mit einem allgemeingültigen Tatbestand
- einem Spaziergang Unter den Linden, die in den Augen ganz Europas
wieder zu einem Berliner Stadtsymbol geworden sind - einleiten,
als durch ein Erfühlen einer Symbolavenue und ihrer symbolischen
Akzeptanz im Traum.
Von den verschiedenen
Ansätzen interkultureller Forschung - Fragebogen, Vergleich,
Vernetzung - wurde hier als Ausgangspunkt auf das Symbolische im
modernen und weiten Begriffsverständnis zurückgegriffen.
Über das Symbol lässt sich nämlich eine deutsch-französische
Gegenüberstellung in den unterschiedlichsten Bereichen, vom
Amtlich-Offiziellen (die Fahne zum Beispiel) bis hin zum Alltäglichen
(Schaufenster) vornehmen. Darüber hinaus begünstigt das
Symbolische auch eine persönliche Betrachtungsweise.
In Frankreich
wie in Deutschland sind die Symbole ihrer jeweiligen nationalen
Identität und die Geschichte der Symbole Gegenstand zahlreicher
Untersuchungen. Worin jedoch bestehen die deutsch-französischen
Symbole?
Joseph Jurt
hat versucht, die symbolischen Wertvorstellungen des Identitätsbewusstseins
in den beiden Ländern zu definieren : den politischen Willen,
aber auch die Kulturtradition (z.B. Académie française)
und den gemeinsamen Besitz eines Erinnerungserbes in Frankreich.
Die Deutschen hätten demnach zur Zeit der Konfrontation mit
dem napoleonischen Besatzungsregime begonnen, ihre nationale Identität
über die Sprache und die Kultur aufzubauen, später sei
es dann der Föderalismus, der Deutschland prägt, und das
Gefühl der Stärke, einer Wirtschaftslogik vor dem Hintergrund
der allgegenwärtigen Globalisierung. Was die beiden Länder
betrifft, so werde eine Annäherung über Europa versucht
(Europabrücke von Kehl). Joseph Jurt war es auch, der eine
erschöpfende Erfassung der neuen Symbole des wiedervereinigten
Deutschlands vorgeschlagen hat. Er hat dafür den Mauerfall
gewählt, das Brandenburger Tor und seine Geschichte, die Bundesfahne,
die Wirtschaftssymbole, die Nationalhymne und den Verfassungspatriotismus.
Insgesamt fasst er den Symbolbegriff ausdrücklich im Sinne
einer semantischen Funktionalität im Rahmen des sogenannten
expliziten Symbolträgers (Denkmäler, Hymnen, Fahnen) auf.
In diesem Artikel
geht es darum, die gegenwärtigen, impliziteren Symbolträger
darzustellen, die sich im Alltagsleben unbewusst (Straßennamen)
bemerkbar machen bzw. im Begriff der Symbolwerdung (die Reichstagskuppel)
sein können, wobei, ohne auf die klassischen Symbole zurückzugreifen,
der deutsch-französische Blickwinkel berücksichtigt werden
soll.
Die hier ausgewählten
Symbole heben sich bewusst von der traditionellen Definition, d.h.
von lexikalisierten Symbolen wie Fahne, Adler und Hahn ab. Das bedeutet,
dass auf der Grundlage der hier beigefügten Beispiele ein Sinngefüge
abgeleitet werden kann, das sich in den überdeterminierten
Bildern verbirgt: Die beigefügten visualisierten Symbolbilder
sind sinnhaft, mehr noch: sie sind selbst sinnleitend. Es geht dabei
weniger um die Ablehnung einer Kategorie bestehender Symbole, sondern
um Kategorien, die für den vorliegenden Artikel, in dem nach
neuen, zeitgenössischen Orientierungspunkten gesucht wird,
unangemessen waren. Das Symbol ist derart komplex, dass man den
Vorwurf Baudouin Decharneux' gegen die Geisteswissenschaften ohne
weiteres hinnehmen kann, die durch die Inbesitznahme des Symbols
und "dadurch, dass sie sich auf ihr jeweiliges Fachgebiet zurückgezogen
haben, nacheinander sein Erbe verschleudert" hätten . Wenn
man sich im Falle Deutschlands der alten Symbole bedient, führt
das nur dazu, dass man in die alten festgefahrenen Klischeevorstellungen
(Adler) verfällt. Gleichwohl scheinen die ausgewählten
Themen deswegen noch nicht schwammig oder verkürzend. Mit den
alten Symbolen, deren Überschusspotenzial sich durch die häufigen
Wiederholungen abgeschliffen hatte, war eine derart vielfältige
Übermittlung in den Sinnschleifen schlicht nicht möglich.
Die Einführung
einer neuen Symboldimension ermöglicht im Unterschied zu den
fest kodierten, alten Symbolen Erfindungsgabe und Phantasie. Goethe
ist in diesem Zusammenhang z.B. mehr als nur ein einfacher Dichter;
als Mittler, der auf der Suche nach einer "metanationalen Weltliteratur"
aus Weimar ein Zentrum des Kulturaustausches gemacht hat, wo sich
Künstler und Gelehrte (Madame de Staël) einfanden, wird
er zu einem möglichen Sinnbild eines Gesamteuropa gegenüber
offenen Kosmopolitismus. Außerdem gibt es da noch den europäischen
Einfluss, der von seinem Werk selbst ausgeht: Ihm ist es gelungen,
sich "aus spezifisch deutschen Voraussetzungen über das Nur-Deutsche"
zu erheben. Genau diese Aspekte sollen von einer Zusammenstellung
moderner Sinnbilder angesprochen und respektiert werden.
Um der Phantasie
die Gelegenheit zu bieten, sich ein Bild zu machen und zwischen
den hier abgebildeten Symbolen persönliche Verbindungslinien
zu ziehen, dürfen sie nicht zu zahlreich sein und müssen
um der Suggestivkraft willen ohne lange historische Ausführungen
auskommen:
Als Symbol
für den vorliegenden Artikel wurde ein Gemälde von Rainer
Fetting (*1949) mit dem Titel Sonnenuntergang gewählt, weil
darauf die sowohl der deutschen als auch der französischen
Fahne gemeinsamen Farben zu sehen sind, das beiden gemeinsame Rot
bildet den Hintergrund, links davon blau für Frankreich und
Gold für Deutschland. Die drei so assoziierten Farben werden
hier als mottoähnliche Einleitung den deutsch-französischen
Bildsymbolen der zeitgenössischen Epoche vorangestellt (Abbildung
4). Es handelt sich hierbei also nicht um rein traditionelle Symbole,
sondern vielmehr um eine improvisierte Bilanz im Rahmen der Interkulturalität.
Darauf folgt
der Baum der Erkenntnis, der dem Magazin Thema des deutsch-französischen
Senders ARTE entnommen ist: ein Mensch, dessen Körperstamm,
dessen Arme und Hände einen Baum der Erkenntnis darstellen,
an dem bunte Bänder als Symbol für die mannigfaltigen
Aktivitäten flattern. 1999 sahen dieses Magazin, dessen Vorspann
durchaus zu den modernen Symbolen des hier behandelten Themas (1)
zählt, allabendlich bis zu eineinhalb Millionen Fernsehzuschauer.
1999 wurde
der 250. Geburtstag Goethes (*1749) feierlich begangen. In allen
Auslagen der Büchereien prangte sein Porträtbild. Deswegen
wird er als Symbol für ein Kulturdeutschland betrachtet.
Die Brücke
von Kehl ist ebenfalls ein aktives Europasymbol. Der ehemalige Vorposten
Ludwigs des XIV hatte schon immer große Beliebtheit genossen
(3), heute markiert er aber nicht länger eine Trennlinie, sondern
ist als Verbindungspunkt ein Zeuge des intensiven, täglichen
Hin und Her zwischen den beiden Städten Straßburg und
Kehl und ein bedeutender, moderner Transitort ohne Zoll innerhalb
des Schengener Raumes. Diese riesige Brücke tritt uns auf der
Abbildung als ein Symbol der alltäglichen Austauschbeziehungen
entgegen.
Das Frankreich-Haus
in Berlin kann in seiner Eigenschaft als Ort vielfältiger Initiativen
(Buchhandlung, Kino, Ausstellungen, Presse) als Sinnbild für
die Präsenz Frankreichs in Berlin gelten. Das Photo soll ein
Pendant zu der deutschen Buchhandlung in Paris (gegenüber dem
Centre Pompidou) darstellen, und das Deutsche in Paris und das Französische
in Berlin wurden hier also assoziiert (5+7).
Die Reichtstagskuppel
(1999) und die Pyramide des Louvre (1989) weisen beide eine bewusst
moderne Bauweise auf. Von der Kuppel Norman Fosters aus, die dem
nunmehr transparenteren Gebäude ein neues Gepräge verleiht,
überschaut man Gesamtberlin und seine Baustellen. Die Pyramide
Peis, die bei ihrem Entstehen für einiges Aufsehen gesorgt
hatte, zieht viele Touristen an, die vor dem Eintritt lange Schlage
stehen. Die Ansicht ist bewusst modern gehalten, wodurch die spiralenförmigen
Linien, das Zusammenspiel aus Glas und Metall verstärkt werden
und Außen und Innen austauschbar werden. Für die Öffentlichkeit
hat die Kuppel bereits Kultstatus, was auch für die Pyramide
des Louvre gilt (11).
Der verhüllte
Reichstag: Er wurde 1894 errichtet, 1933 angezündet, 1945 bombardiert
und 1995 für zwei Wochen von Christo in riesige silberne Plastikbänder
gehüllt. Über dieses Bild des Reichstags in der wiederentdeckten
Stadt Berlin, das um die Welt gegangen ist, ist viel Tinte geflossen:
ein ästhetisches Bild und ein Verweis auf die Geschichte (9).
Eine weitere
deutsch-französische Parallele: Vor dem Hintergrund einer geographisch
genauen Wiedergabe der beiden Länder zeichnet sich der von
Christo verhüllte Pont Neuf ab. Auf der anderen Seite besetzt
der Reichstag die Bildmitte. Beide Bilder sind in drei Teile gegliedert:
Himmel, historischer Bau und der Pont Neuf, dem in der Deutschlandkarte
eine versammelte Menschenmenge entspricht, wie sie auch auf französischer
Seite auf dem Pont zu sehen ist. Es handelt sich dabei um das Titelblatt
des Adressbuch der deutsch-französischen Zusammenarbeit, das
ebenfalls ein zeitgenössisches deutsch-französisches Symbol
darstellt, das zusammen von dem französischen Außenministerium
und dem Auswärtigen Amt in Deutschland herausgegeben wird (8).
Das Brandenburger
Tor erinnert wiederum an den Auszug von Christa Wolf. Hier sieht
man eine Bildmontage des Tores, das augenblicklich (2000/2001) restauriert
wird. Das Tor ist auf dem Bild ohne die Baugerüste abgebildet,
und im Hintergrund sieht man perspektivisch abgesetzt den Pariser
Triumphbogen und den Eiffelturm. Ein Bild mit einem augenzwinkernden
Hinweis, das durch den Werbezug für die Berliner Zeitung und
ein Telekomunternehmen eine zusätzliche Bedeutungsschwere erlangt.
Oben erhebt sich wieder aus dieser Zusammenstellung die Quadriga
als eine beruhigende Ansicht der Identifikation. Durch diese phantasievolle
Überlagerung verschiedener Baudenkmäler wird dieses Photo
zu einem Modell für das Deutsch-Französische schlechthin
(12).
Mit einer großen
Ausstellung, die zuvor in einer erweiterten Fassung im Martin-Gropius-Bau
in Berlin zu sehen war, wurden die beiden Nationen 1998 im Petit
Palais geehrt: Mit Marianne und Germania: ein Jahrhundert deutsch-französischer
Passionen (1789-1889) werden die Beziehungen zwischen Deutschland
und Frankreich über ein Jahrhundert nachgezeichnet. In der
Ausstellungen standen vor allem Schriftsteller, Dichter und Philosophen
in Form von Büsten, Porträts, Manuskripten, Zeichnungen,
Kunstwerken und Allegorien (Marianne und Germania) im Mittelpunkt.
Die Journalisten der Tageszeitung Le Monde, Frédéric
Edelmann und Emmanuel de Roux, haben ihren Eindruck folgendermaßen
zusammengefasst: "die scheibchenweise, auf verschiedene Räume
verteilte Ausbreitung eines bücherzentrierten Wissens" (7.11.1997).
Einmal mehr hat sich die Vergleichsziehung auf eine literarische,
geschichtsnahe Gegenüberstellung ohne zeitgenössischere
Neuaneignung beschränkt. Heute wird Germania für den Express
vom 4. November 1999, dessen Titelblatt anbei abgebildet ist, durch
Claudia Schiffer repräsentiert. Sie stammt aus Düsseldorf,
der Geburtsstadt Heinrich Heines und lebt zur Zeit in Paris. Marianne
wiederum findet ihre Repräsentationsfigur in Laetitia Casta,
die auf dem Titelblatt des Spiegel vom 29. Mai 2000 in der Gestalt
Europas auftritt (2). Bis in unsere Gegenwart hinein ist die Marianne-Büste,
die zusammen mit dem Photo des Staatspräsidenten in jedem Bürgermeisteramt
in Frankreich zu sehen ist, ein wirkliches Nationalsymbol, das außerdem
auch als Briefmarkenmotiv dient. Immer wieder wurde diese Büste
der jeweiligen Epoche angepasst: Brigitte Bardot, Mireille Mathieu,
Catherine Deneuve und Sophie Marceau waren in den letzten dreißig
Jahren die Vorgängerinnen von Laetitia Casta. Die Wahl wird
staatlicherseits vorgenommen, da keine offizielle Büste gesetzlich
vorgeschrieben ist. Gegenüber der Popularität der republikanischen
Repräsentationsfigur Marianne, die in dem Alltagsleben der
Franzosen durchaus präsent ist, ist die Gestalt und das Symbol
Germania, ja sogar deren Existenz einer Mehrheit der Deutschen schlicht
unbekannt.
Panthéon
und Walhalla (10+13): Welcher Kontrast entsteht zwischen den beiden
Ländern, wenn man die Denkmäler betrachtet, die der bedeutenden
Männern der beiden Nationen symbolisch als letzte Ruhestätte
dienen! Das Panthéon in Paris, das zur Abgrenzung von den
umliegenden Wohnhäusern lediglich mit einem kreisförmigen
Kopfsteinpflaster umgeben wurde, fügt sich, einem griechisch-lateinischen
Baustil mit Dom und Kolonnaden folgend, nahtlos in das Quartier
Latin des 5. Arrondissements. Es gehört zum Alltag des Viertels,
und wer sich irgendwann im Laufe eines Jahres dorthin begeben möchte,
kann dies ohne Schwierigkeiten tun. Die deutsche Denkstätte
aus strahlendweißem Carrara-Marmor, die Walhalla, thront als
Nachahmung eines griechischen Tempels hundert Meter oberhalb der
Donau inmitten der Natur unweit von Regensburg. Dieser in den Jahren
1830 bis 1842 errichtete "Tempel" ist in Deutschland kaum bekannt
und wird selbst in den Touristenführern selten abgebildet.
Es finden sich dort 122 Büsten der großen Männer
Deutschlands. Auch wenn man sich in beiden Fällen für
einen griechisch-lateinischen Bauhintergrund entschieden hat, liegt
das deutsche Panthéon, die Walhalla, nicht in einem geographischen
Landeszentrum, weder in Bonn noch in Berlin und steht so sinnbildlich
für den deutschen Föderalismus, während das Panthéon
natürlich das zentralistische Frankreich verkörpert. Das
ursprünglich als Kirche geplante Panthéon wird im Jahre
1885 anlässlich der Beisetzung Victor Hugos zu einem weltlichen
"Tempel". Die am häufigsten zitierten Persönlichkeiten
sind Voltaire, Rousseau, Hugo, Zola sowie Jean Jaurès, Jean
Moulin und Malraux. In diesem Zusammenhang bildet aber im Grunde
die Gegenüberstellung durch das Photo selbst zwischen Zentralismus
und Föderalismus das eigentliche Hauptanliegen. Deswegen, und
nicht aus historischen Erwägungen, wurden sie hier als Symbol
ausgewählt.
Im Grunde lassen
sich die hier ausgewählten Symbole in drei Kategorien unterteilen:
eine visuelle Kategorie (Gemälde, Zeichnungen, Schaufenster,
Zeitungen), eine Kategorie der Kulturorte (Kuppel, Pyramide) und
eine Kategorie kultureller Events (Christo). All diese Symbole wurden
ausgewählt, um über den Bereich des Informativen hinaus
im Streben nach einer räumlichen Verwirklichung des persönlichen
Ausdrucks sinnstiftend zu wirken. "Gibt es zwischen der Symbolüberhöhung
und seiner Verkürzung nicht auch Raum für einen interdisziplinären
Mittelweg, der sich angesichts des sich uns darbietenden Hypothesenknäuels
durch eine gewisse Bescheidenheit auszeichnen könnte?" (Decharneux).
Zur Interpretation
der vorliegenden Bilddokumente, die als eine persönliche Symboldeutung
gehandhabt werden sollte, sollte man sich "in die verborgenen Schichten
der Seele" hinabbewegen.
Übersetzung
Forum (MT)
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