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Es ist zwar richtig, dass wir einer Trennung von Nation und Staat beiwohnen und dass ein Europäischer Staat im Entstehen begriffen ist, ich bin aber trotzdem der Ansicht, dass diese Entwicklung die verschiedenen Nationen nur stärken wird. Das europäische Modell stellt ein Wirtschafts- und Sozialmodell dar, was nicht unbedingt bedeutet, dass alles, was augenblicklich zu diesem Wirtschafts- und Sozialsystem gehört, Bestand haben muss. Notgedrungen wird sich ein europäisches Sozialmodell im Laufe der Integration Europas herausschälen. © 1999
Alain TOURAINE - Soziologe, Dozent an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales


Forum: Herr Touraine, wie bewerten Sie die aktuelle Europa-Debatte ?

Alain Touraine: Bei einem von J. Habermas organisierten Treffen, an dem auch ein anderer Deutscher, Claus Offe, teilgenommen hatte, haben die Beteiligten hinsichtlich der Bedeutung des Projekts Europa sehr unterschiedliche Standpunkte bezogen. Ich glaube, dass nach Maastricht und Amsterdam eine wirklich offene Diskussion zu diesem Thema Not tut.

Was nun aber die europäische Integration betrifft, so lassen sich zwei grundlegende Konzeptionen voneinander unterscheiden: auf der einen Seite eine Konzeption, die ich als pragmatische Sichtweise bezeichnen möchte und die D. Cohn-Bendit mit dem Bild einer sich allmählich ausweitenden Pfütze beschrieben hat, die schliesslich den grössten Teil nationalstaatlicher Kompetenzen umfassen werde. Um ein von ihm gern angeführtes Beispiel aufzugreifen: Über das Problem des Schienennetzes lässt sich nicht ohne europäische Konzertierung befinden. Dieser Position fehlt es nicht an Argumenten. Auf der anderen Seite gibt es die - auch wenn ich sie nicht unbedingt teile - überaus brillante Sichtweise von Habermas, der zufolge die Staaten Europas gezwungen seien, den Welfare State zu opfern. Als Folge dessen hätten sie mit rechtsextremistischen Populismen zu rechnen. Von dieser Warte aus kann die Demokratie nicht länger auf staatlicher, sondern nurmehr auf europäischer Ebene fortbestehen. Diese Konzeption hat auf nationalstaatlicher Ebene weitreichende, in meinen Augen übertrieben negative Auswirkungen, daneben allerdings auch positive, da sie den Vorschlag zu einer Ausarbeitung einer europäischen Verfassung beinhaltet (auch wenn Habermas klar geworden ist, dass dieser Vorschlag ein wenig überzogen ist). Dennoch ist das ein Gedanke, der eine Diskussion verdienen würde, die sowohl Juristen und Politikern als auch Philosophen und Wirtschaftswissenschaftlern offen stünde.

Forum: Dieser Gedanke scheint allerdings nicht unbedingt auf eine breite Akzeptanz zu stossen, da er sich implizit auf den Föderalismus stützt.

A. T.: Er ist gleichbedeutend mit Föderalismus! Obwohl ich der Vorstellung zustimme, nach der es einen Bruch mit dem Nationalstaat als umfassendem institutionellem Rahmen gebe, so vertrete ich doch einen einigermassen gegenteiligen Standpunkt. Es ist zwar richtig, dass wir einer Trennung von Nation und Staat beiwohnen und dass ein Europäischer Staat im Entstehen begriffen ist, ich bin aber trotzdem der Ansicht, dass diese Entwicklung die verschiedenen Nationen nur stärken wird. So sollte es doch auf nationaler Ebene - zum Beispiel Frankreichs - möglich sein, das Band zu sichern zwischen den gesellschaftlichen Kräften und sozialen Forderungen einerseits, die zur Zeit zersplittert sind, und den politischen Kräften andererseits, die augenblicklich voll und ganz von der internationalen Wirtschaftssituation in Anspruch genommen werden. Das politische System und der Staat sind also voneinander getrennt. Es gibt auf der einen Seite das politisch-gesellschaftliche System und auf der anderen den Staat und die internationale Wirtschaft. Diesbezüglich gebraucht man häufig das Wort "Glocalisation", das auf die Vorstellung einer Enwicklung des "Lokalen" im Gegensatz zum "Globalen" zurückgreift (Basisdemokratie, Vereinsbildung, die NGOs etc.). Ich finde diese Problematik hoch interessant. Schliesslich darf auch nicht vergessen werden, dass die Ereignisse einander Schlag auf Schlag folgen.

Forum: Wie beurteilen Sie den beschleunigten europäischen Integrationsprozess und seine Folgen seit dem Ende des Kalten Krieges und dem Fall der Berliner Mauer?

A. T.: Wenn man an die Unterzeichnung der Römischen Verträge zurückdenkt, dann handelte es sich dabei um ein Abkommen zwischen Staaten. In gewisser Hinsicht gab es Europa noch gar nicht. Es war zu diesem Zeitpunkt nur ein Projekt. Heute hingegen kann Europa in einer ganzen Reihe von Bereichen seinen Willen durchsetzen und seine Fortentwicklung beschleunigen.

Was die im eigentlichen Sinne gesellschaftlichen Probleme betrifft, so gibt es selbstverständlich kein europäisches Modell. Sollten die Visegrad-Staaten der Union beitreten, so wird sich dieser Befund nur bestätigen. Schon jetzt bestehen starke Disparitäten zwischen Ländern wie Portugal und Dänemark, deren Gesellschaften sehr unterschiedlich sind. Die Wirtschaftsdynamik stellte den Hauptfaktor der europäischen Integration dar. Deswegen muss auch ein sinnvoller Vergleich zwischen den verschiedenen Staaten Europas mehr auf der Grundlage einer vergleichenden Untersuchung ihrer historischen Transformationsprozesse gezogen werden als auf der Grundlage einer strengen Sozialanalyse. Was jeden einzelnen Staat der Union in sozialer Hinsicht prägt, ist zum Teil das Resultat seiner europäischen Integrationsbemühungen; es ist aber auch eine Folge seiner Geschichte.

Nimmt man das Wirtschafts- und Sozialmodell näher in Augenschein, dann kann man sich mit Gewinn auf das Buch von Michel Albert über das Rheinische Modell beziehen. Dieses Rheinische Modell entspricht weder einem europäischen noch einem englischen Modell. Wie aus seinem Namen hervorgeht, galt dieses Modell als das Modell Deutschland. Seit zwei oder drei Jahren ist Deutschland nun im Begriff, zu einem anderen Modell überzugehen. Die Umwandlungsprozesse der Deutschen Bank, die einen nicht unbeträchtlichen Teil der deutschen Wirtschaft repräsentiert, ist ein gutes Beispiel für diese Veränderung. Deswegen, glaube ich, ist es ratsamer, sich weiterhin auf die europäische Idee zu konzentrieren, d.h. auf die Suche nach der Bedeutung des Projektes Europa und seiner Ausrichtung, sowie auch darauf, diejenigen ausfindig zu machen, welche die grössten Gewinne dabei erzielen, selbst wenn mir diese zuletzt genannte Problematik als ein wenig überholt erscheint. Die streng vergleichend arbeitenden Studien auf der Grundlage von Wirtschaftsdaten sind deswegen interessant, weil sie wenigstens eine objektive Vergleichsbasis zwischen den Mitgliedstaaten liefern. Dieser Analysetypus ist sicher genauer als die allgemeinen Vergleiche der europäischen Gesellschaften.

Heute wollen die Bürger vor allem über die Richtung Bescheid wissen, die Europa einschlägt, und die Konsequenzen der getroffenen Entscheidungen. Häufig ist zu hören, der Euro habe uns vor internationalen Währungsturbulenzen bewahrt. Ich kann nicht sagen, ob das zutrifft oder nicht. Aber es erscheint heute immerhin als Realität, dass wir in wirtschaftlicher Hinsicht geeint sind, finanzpolitisch zum Teil und währungspolitisch voll und ganz.

Was sind die Folgen einer solchen Entwicklung? Mehr noch: Wohin führt sie uns? Wie wird diese Wirklichkeit in den verschiedenen Staaten der Union wahrgenommen? Ist es die Wirtschaft, die alles dominiert oder sind es im Gegenteil die Nationen, die an Bedeutung verlieren, so wie Habermas’ ein wenig zugespitzter Gedanke lautet? Wir dürfen diesen durchaus nicht unbegründeten Gedanken allerdings nicht einfach übergehen, vor allem wenn man die aktuellen Probleme bedenkt, wie beispielsweise die Krise der politischen Eliten. Man stösst auf diese Art Problem bei dem neuen Kanzler Gerhard Schröder, der wie unbestimmbar wirkt und wie jemand, der so wenig wie möglich gesagt hat, was er eigentlich tun wolle.

Es scheint mir, als konzentriere sich die Diskussion um die europäische Integration nicht genug auf die wirkliche Bedeutung des europäischen Projekts und auf die Richtung, die es einschlägt. Man kann das Wort „Föderalismus", das unmittelbar mit den von mir angesprochenen Problematiken zusammenhängt, nicht ewig vor sich her schieben. Es ist nicht recht ersichtlich, weder warum dieses Wort verbannt worden ist noch wodurch es ersetzt worden wäre! Ist konföderal besser als föderal? Was für eine Abgrenzung will man zwischen den beiden Begriffen vornehmen? Auf diese Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten. So hat Europa vielleicht gut daran getan, schrittweise voranzuschreiten und wie eine Pfütze zu verfahren, die sich nach und nach vergrössert.

Forum: Ist das demokratische Defizit, von dem heute die Rede ist, nicht gerade auf diese Undurchschaubarkeit zurückzuführen?

A. T.: Natürlich. Im Frühjahr des letzten Jahres wurde ich übrigens um einen Vortrag in Amsterdam über die Demokratisierung Europas gebeten. Dieses Thema umfasste, wenn ich es richtig sehe, drei Fragestellungen. Sind Sie für die Demokratie? Ja, dieser Punkt ist unstrittig. Ist Europa demokratisch? Nein, auch diese Frage ist nicht schwer zu beantworten. Muss Europa demokratisch sein? Aus Spass habe ich darauf negativ geantwortet. Damit wollte ich zum Ausdruck bringen, dass die demokratischen Phänomene meiner Meinung nach per definitionem von unten kommen müssen. Zur Zeit sind sie eher auf einer Ebene unterhalb des Staates anzutreffen. Ich denke, dass sie auf das nationalstaatliche Niveau übergreifen sollten. In diesem Stadium wäre es dann möglich, die Frage der Demokratisierung Europas ernsthaft in Betracht zu ziehen. Demgegenüber glaubt Jacques Delors an die Notwendigkeit, schon jetzt politische Initiativen zur Demokratisierung Europas zu ergreifen. So hat er zum Beispiel die Möglichkeit erwähnt, eine Europawahl zu organisieren und einen Kommissionspräsidenten einzuberufen, der vor dem Parlament verantwortlich sei. Auch wenn ich möchte, dass es dazu kommt, so erscheint es mir eher unwahrscheinlich, dass diese Veränderungen in dieser Form eintreten werden. Meiner Meinung nach stellt sich die Frage der Demokratie in Europa zuallererst auf staatlicher Ebene. Ich möchte, dass Europa demokratisch wird, aber ich habe den Eindruck, dass man dorthin nur über einen lang andauernden Prozess gelangen kann, der in jedem einzelnen Staat zu einer Demokratisierung des politischen Systems selbst führen muss. Man darf nicht die Augen davor verschliessen, dass unsere politischen Systeme zur Zeit nicht demokratisch sind. Weder die Menschen wissen wirklich, warum sie wählen, noch können die Parteien mit Bestimmtheit sagen, wen sie repräsentieren. Wofür stehen denn zum Beispiel die Kommunissten oder die Sozialisten? Und - eine noch heiklere Frage - wen repräsentiert überhaupt die UDF(1) oder die Mitte? Auf diese Fragen lässt sich heute nur unter allergrössten Schwierigkeiten eine Antwort finden, und diese Feststellung gilt ebenso für die meisten europäischen Länder.

Forum: Um noch einmal auf das "soziale Europa" zu sprechen zu kommen, sehen Sie darin eine sinnvolle Perspektive?

A. T.: Aus Gründen, die nichts mit den von mir bisher genannten zu tun haben, glaube ich mehr und mehr, dass es nicht unbedingt ein soziales Europa, wohl aber einen Trend zu einer sozialen Angleichung in Europa gibt. So ist zum Beispiel eine Verringerung der Unterschiede zwischen den Durchschnittsgehältern festzustellen. Noch vor zwanzig Jahren waren Irland und Portugal Länder, die sich deutlich stärker von den anderen unterschieden als heute. Es gibt ein zentripetales Phänomen, u.a. auch in seiner einfachsten Erscheinungsform: Europa verteilt grosse Summen. So dürften die Portugal bewilligten Subventionsgelder zwischen 6 und 8% seines Bruttosozialprodukts ausmachen, was eine kolossale Summe ist. Im übrigen lässt sich durchaus behaupten, dass auch die Wiedervereinigung Deutschlands einen Ressourcentransfer in einen Teil von Mitteleuropa, Ostdeutschland nämlich, zur Folge gehabt hat, der von dem gesamten System getragen wurde. Es gibt also Integrationsprozesse, welche die Ungleichheiten zwischen den Ländern verringern und unmittelbaren Einfluss auf den sozialen Bereich haben.

Übrigens zeichnet sich in meinen Augen schon jetzt deutlich ab, dass es nicht zu einem Abbau des europäischen Sozialmodells, d.h. der Sozialversicherungssysteme zugunsten des Modells Thatcher, um es verkürzt auszudrücken, kommen wird. Das Problem der europäischen Staaten und inbesondere eines Landes wie Frankreich besteht in der Notwendigkeit, eine unabdingbare Wettbewerbsfähigkeit mit der Bewahrung des Sozialversicherungssystems in Einklang zu bringen. Dies ist durchaus möglich, unter der Bedingung, dass man einer tiefgreifenden Umgestaltung des Staatssektors zustimmt, der nur unzureichend funktioniert und riesige Summen verschlingt. Trüge der Staat zum Beispiel nicht die Verantwortung für die SNCF, Air France und den Crédit Lyonnais, wäre das Sozialversicherungssystem noch zehn Jahre lang voll funktionsfähig.

Ich habe den Eindruck, dass das Zeitalter des Liberalismus zu Ende geht. Ich nenne das die liberale Übergangsphase. Demgegenüber waren andere der Meinung, es handle sich um einen Übergang von einer Staatswirtschaft zu einer liberalen Wirtschaft. Ich glaube nicht, dass es eine liberale Wirtschaft gibt. Es gibt immer wieder Augenblicke der wirtschaftlichen Liberalisierung, wenn die sozialen, politischen u.a. Kontrollinstanzen dysfunktionell werden. Es ist unstrittig, dass es während der "Trente Glorieuses", dem französischen Wirtschaftswunder, sehr funktionelle Beziehung zwischen Staat und Wirtschaft gegeben hat, was allerdings im Anschluss daran nicht mehr von Dauer war. Wir befinden uns augenblicklich in einer Phase starker Dysfunktionalität, egal ob es sich um Unternehmensmanagement, staatliche Politik oder das Bildungssystem handelt. Dieses Problem betrifft im wesentlichen Frankreich, ist allerdings auch für bestimmte andere Länder von Relevanz.

Gleichzeitig ist festzustellen, dass die eigentliche soziale Wirklichkeit in der Bewusstwerdung der Bevölkerungen besteht. So wird es beispielsweise unweigerlich zu einer europaweiten Rentendebatte kommen, die sie unmittelbar betreffen wird. Keines der Länder der Union ist heutzutage dazu in der Lage, dieses Problem eigenständig zu lösen. Italien hat seine Probleme zum Beispiel immer über Europa gelöst. Und in Frankreich weigert man sich, sich des Rentenproblems anzunehmen. Meine Beamtenkollegen sind denn auch weiterhin davon überzeugt, dass sie ihre Rente auf der Grundlage eines Umverteilungsprinzips beziehen, während dieses doch nur noch einem geringen Prozentsatz ihrer Rente zugrunde liegt und der grössere Teil aus dem Staatshaushalt stammt.

Forum: Welche Lösung halten Sie für die beste? Ein Kapitalertragssystem etwa?

A. T.: Das System der Rentenfonds gibt es in Europa bereits seit geraumer Zeit. Im übrigen weiss ich nicht, was daran so schlimm sein soll. Ausserdem ist der einzige Wirtschaftsbereich Frankreichs, in dem es Rentenfonds gibt, der Staatssektor!

Forum: Warum wird dann diese Frage gewissermassen tabuisiert?

A. T.: Das hat etwas mit Ideologie zu tun. Man sollte dem aber keine allzu grosse Bedeutung beimessen, da uns die Wirklichkeit immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Ich denke aber, dass wir deswegen noch lange nicht ein Modell amerikanischen oder chilenischen Zuschnitts einführen werden. Die Bevölkerung Frankreichs ist bestimmt dazu in der Lage, die Umgestaltung des Rentensystems zu akzeptieren, was manche Proteste oder Verständnisschwierigkeiten nicht ausschliesst. Man sollte ihr dagegen keine Beitragserhöhungen bei gleichzeitiger Reduzierung der Leistungsansprüche zumuten, weil dies nur zu einer Situation wie im Jahre 1995 führen würde. Die Bevölkerungen in den meisten europäischen Ländern möchten nicht nur ein soziales Interventionsmodell in der Wirtschaft beibehalten, sondern aufrechterhalten und fortentwickeln: Genau darin besteht das europäische Modell.

Forum: Demnach gibt es also eine europäische Sonderstellung in sozialpolitischer Hinsicht, die sich trotz Globalisierung und Liberalisierung behauptet...

A. T.: Es gibt in sozialpolitischer Hinsicht tatsächlich eine europäische Sonderstellung. Aber ich habe so meine Zweifel an der Idee der Globalisierung, hinter der sich ganz unterschiedliche Realitäten verbergen. Ich denke allerdings, dass das europäische Modell ein Wirtschafts- und Sozialmodell darstellt, was nicht unbedingt bedeutet, dass alles, was augenblicklich zu diesem Wirtschafts- und Sozialsystem gehört, Bestand haben muss. Diesbezüglich teile ich die Meinung von Jacques Delors, der der Überzeugung ist, dass sich ein europäisches Sozialmodell notgedrungen im Laufe der Integration Europas herausbilden werde. Ein Beispiel: Es lassen sich die Steuersysteme nicht harmonisieren ohne die Sozialpolitiken aufeinander abzustimmen.

Forum: Was sind die Grundzüge dieses europäischen Sozialmodells?

A. T.: Die Sozialversicherungssysteme haben nicht die erhofften Verteilungseffekte gehabt. Das kostenlose staatliche Schulsystem erhöht noch die Ungleichheiten. Die Krankenhauseinrichtungen und die sozialen Sicherungssysteme verstärken nicht unbedingt die sozialen Ungleichheiten, sie bekämpfen sie aber auch nicht. In sozialer Hinsicht waren die Ergebnisse also relativ bescheiden. Deswegen haben wir unsere Ansicht diesbezüglich modifiziert. Es ist nicht länger die Rede von Domination oder Ausbeutung, sondern von Ausgrenzung oder Marginalisierung. Man konzentriert sich nunmehr auf die Suche nach Mitteln und Wegen, wie man sich gegen die grössten Risiken schützen kann. So wie die Kommissionen, die den Industriesektor vor den Hauptrisiken schützen, so werden auch die sozialen Sicherungssysteme als kollektives Schutzmittel gegen die individuellen Hauptrisiken konzipiert und gefördert.

Das europäische Modell wird nicht zu einem durch und durch liberalen Modell herabgestuft werden. Soweit ich unterrichtet bin, ist man in keinem Land dazu bereit, diese Richtung einzuschlagen. Selbst Tony Blair versucht, das Schulsystem und das Gesundheitssystem zu unterstützen, was den Mindeststandard darstellt. Von einem allgemeinen Standpunkt aus betrachtet, glaube ich, dass die staatliche Rolle in diesen beiden Bereichen aufrecht erhalten, ja noch verstärkt werden wird.

Eigene Übersetzung des Forum



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