Wieder einmal
spielt das deutsch-französische Gespann eine massgebliche Rolle
für ein europäisches Sozialmodell. Auf dem Wiener Treffen
wurde die Notwendigkeit erkannt, einen europäischen Stabilitätspakt
für Beschäftigung zu begründen. Als Zeichen der Zeit
fällt gerade Deutschland zusammen mit der ersten Europäischen
Ratspräsidentschaft nach Einführung des Euro auch die
grosse zweifache Verantwortung zu, sowohl den neuen Kampf für
Beschäftigung als auch jene neue Strategie auf die Bahn zu
bringen, die die Solidarität zwischen den europäischen
Ländern sicherstellen soll.
Frankeich hat
sowohl durch Jacques Chirac als auch durch seine Regierung seinem
Wunsch Ausdruck verliehen, den währungspolitischen Stabilitätspakt
um einen beschäftigungspolitischen zu ergänzen. Dieser
darf sich allerdings nicht darauf beschränken, punktuelle Massnahmen
mit sporadischen Finanzanreizen zur Beschäftigung zu verkünden.
Nach langjährigen Versuchen hat Frankreich nun einen Begriff
von den Grenzen, an die diese Politik direkter Beschäftigungsbeihilfen
stösst, und der Wahrheit halber muss man eingestehen, dass
unsere deutschen und holländischen Partner zu Recht ein wirtschafts-
mit einem sozialpolitischen Vorgehen eng gekoppelt haben.
Die neue Politik
in Deutschland sollte nicht zu einem Entwicklungsmodell auf Distanz
gehen, dass sich bisher bewährt hat. Zur Schaffung stabiler
Arbeitsplätze hat man bei unserem Nachbarn seit langem auf
die Markwirtschaft vertraut. Ausserdem steht man dort in einer langen
Tradition des Sozialdialogs, der den Sozialpartnern eigenständiges
Entscheiden ermöglicht. In einigen grossen deutschen Unternehmen
haben die Arbeitergewerkschaften auf eigenen Antrieb hin bekannt
gegeben, dass sie einen Erhalt der Arbeitsplätze einem Ausbau,
ja sogar einer Bestandsbewahrung aller sozialen Errungenschaften
vorzögen. In dieser Reife liegt eine der grossen Stärken
des rheinischen Modells. Der Kapitalismus wurde in Deutschland stark
von einer industriellen Zielsetzung beherrscht und orientierte sich
an langfristigen Vorgaben. Jetzt, wo die aus Übersee kommende
Finanzwirtschaft anstelle von Industriestrategien eher sehr kurz
angelegten Gewinnen den Vorzug geben könnte, bildet der deutsche
Kapitalismus ein Gegenmittel, dessen Mixtur man nicht vergessen
darf, den Beleg dafür, dass die Investitionen von heute die
Gewinne von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen
sind. All diejenigen, die von diesem Gebot abweichen, schaden den
kommenden Generationen.
Die zweite
Stärke Deutschlands liegt seit langem in der frühzeitigen
Hinführung der Jugendlichen zu Berufen mit einer hoch entwickelten
Industrieausbildung, so dass noch heute grosse deutsche Unternehmen
unter der Leitung ehemaliger Azubis stehen. Aber auch hier zeigen
sich die deutschen Firmen, die die Suche nach kurzfristigen Interessen
umtreibt, als nicht mehr ganz so gewillt, Jugendlichen Lehrstellen
zu gewähren. Trotzdem könnte dieses Modell einen nützlichen
Einfluss auf Frankreich ausüben, das mit lediglich 400.000
Jugendlichen in dualer Ausbildung immer noch weit zurückliegt.
Schliesslich
steht den Arbeitern der deutschen Tradition gemäss ein hohes
Gehalt zu. Wer behauptete, dass eine etwa um ein Drittel billigere
Arbeitskraft an einem Automontageband die bessere Wirtschaftsentscheidung
sei, der bekam vom deutschen Arbeitsministerium zur Antwort, dass
diese Rechnung so nicht aufgehe. Ihm wurde erklärt, dass der
deutsche Arbeiter, der besser bezahlt, höher qualifiziert und
somit dazu in der Lage sei, seinen Beitrag zu einer besseren Spezialisierung
des Unternehmens auf den Weltmärkten zu leisten, die Arbeitskosten
durch seine Schnelligkeit und seine Motivation bei weitem kompensiere.
Der Kampf um die Beschäftigung wird nicht durch eine Gefährdung
der Arbeitskraft, sondern durch deren bessere Anpassung gewonnen,
die auch eine bessere Ausbildung verbürgt.
Deshalb verlassen
wir uns auf unsere Freunde in Deutschland: Anstatt sich von ihrem
Modell loszusagen, müssen sie das neue Europa von den Vorteilen
eines Ansatzes profitieren lassen, der ihnen lange Jahre ein ausgesprochen
solides Wachstum beschert hat.
Der internationale
Kontext hat sich allerdings verändert. Die Globalisierung bringt
Erfordernisse mit sich, über die Franzosen wie Deutsche unausweichlich
gemeinsam nachdenken müssen. Eine gewisse Zurückhaltung
in Gehaltsfragen wird notwendig, um Standortwechsel zu vermeiden.
Es war nicht falsch, dass Deutschland eine Politik hoher Löhne
beibehalten hat, aber seit 1991 sind die Sozialabgaben von 35,5%
auf 42% angewachsen. Und Frankreich seinerseits ist trotz bescheidener
Entlastungen immer noch Spitzenreiter bei den Lohnnebenkosten. Ebenso
wie unserem Nachbarn ist uns eine reelle Instabilität zu eigen
gegenüber denjenigen Ländern, die ihre indirekten Arbeitskosten
erfolgreich in den Griff bekommen haben.
Die Belastung
der Arbeit durch Abgaben muss also zurückgeführt werden.
Dies wird aber nur mittels einer viel verantwortungsbewussteren
und effizienteren Führung des Wohlfahrtsstaates gelingen. Es
geht um eine Regulierung der Krankenversicherung bzw. um eine rechtzeitige
Anpassung des Rentensystems, bei denen unsere Regierungen sich noch
schwer tun. Das ist ein Vorhaben, das viel Mut erfordert: Die neue
deutsche Regierung hat es für richtig erachtet, einige unter
Bundeskanzler Kohl vorgenommene Einschränkungen zurückzunehmen;
auch die Regierung Jospin glaubte anfangs, sich von den neuen durch
die Reform des Sozialversicherungssystems auferlegten Zwängen
freizumachen. Verantwortliches Handeln ohne Beispiel ist vonnöten,
und den beiden Ländern wird dies nur gelingen, wenn sie sich
gegenseitig stützen, um die öffentliche Meinung im Inland
dazu zu bewegen, die für den Erhalt gewisser Vergünstigungen
empfänglicher ist als für ein mutiges Handeln zur Vorbereitung
der Zukunft.
Was hier gesellschaftlich
auf dem Spiel steht, ist keine unbegrenzte Ausweitung des Kranken-
bzw. Altersversicherungssystems, sondern zunehmend eine systematische
Präventivpolitik gegen Langzeitarbeitslosigkeit und damit nicht
allein gegen berufliche, sondern auch soziale Ausgrenzung. Dieser
Kampf gegen Langzeitarbeitslosigkeit beinhaltet eine neue Strategie:
Es geht nicht länger darum, die ewig gleichen Lösungen
für Situationen zu liefern, die mittels abstrakter, statistischer
Definitionen erfasst wurden, sondern darum, denjenigen Personen
entgegenzukommen, deren Lage einen individuellen Ansatz erforderlich
macht. Wiedereingliederungsversuche müssen Unterstützung
finden, ja, wenn nötig, wiederholt werden. Ein gescheiterter
Versuch darf für all jene nicht den Verlust der solidarischen
Hilfsmassnahmen bedeuten, die sich um die Wiedererlangung von Autonomie
bemühen. Die französische Idee, die Sozialhilfe zu einem
wirklichen lokalen Initiativvertrag umzuwandeln und die Erfahrungen
in Deutschland, wo versucht wurde, arbeitslose Studienabgänger
umzubilden und zu Trägern der Modernisierung im Osten zu machen,
zeigen, wie eine Form des gemeinsamen Wettbewerbs aussehen kann,
um den nordamerikanischen Dualismus zwischen denen, die immer besser
abgesichert sind, und denen, die sich immer weiter ausgeschlossen
fühlen, zu überwinden.
Deswegen ist
das deutsch-französische Gespann also am ehesten dazu in der
Lage, Europa seine wahre Dimension zu verleihen, es einerseits für
den Wettbewerb mit der Dynamik Amerikas zu rüsten, es andererseits
aber auch dazu zu befähigen, den Schwächen der "Marktgesellschaft"
zu entgehen. Weiter auf Investitionen setzen, den Unternehmungsgeist
unserer Bevölkerungen bewahren: Das sind die Wege, die es zu
einem aktiven, jungen Europa, das den wirtschaftlichen Wohlstand
unseres Kontinents sowie dessen Attraktivität sichern kann,
zu beschreiten gilt. So manche Verbraucherbewegung, ja sogar eine
bestimmte Erscheinungsform konservativer Umweltbewegungen neigt
zu einer Ablehnung der täglichen Anstrengungen, die eine ob
nun als dauerhaft oder solide bezeichnete Wachstumsentwicklung nun
einmal voraussetzt. Angesichts dieser Gefahr muss der nachwachsenden
Generation eine wirkliche Solidarität zwischen den Europäern
gegenübergestellt werden. Mehr noch, es besteht ein moralisches
Gebot, dass Franzosen und Deutsche entschlossen vorantreiben müssen,
das Gebot einer aufrichtigen, familiären Grossherzigkeit. Zwei
grosse Länder, die so viele Opfer an Menschenleben zu beklagen
hatten, müssen in diesem neuen Jahrhundert ein Beispiel für
Lebensliebe, für die Geborgenheit von Kindern und für
den Respekt der Menschen geben.
Dieses Ideal
entspricht demjenigen, das auch die Väter Europas bewegt hat.
Weil Deutsche und Franzosen mehr gelitten haben als andere, müssen
sie als erste den neuen Weg in die Zukunft beschreiten.
Eigene
Übersetzung des Forum
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