Für die
neue Bundesregierung ist die Einbindung Deutschlands in die Europäische
Union von zentraler Bedeutung für ihre Politik. Das gilt selbstverständlich
für die deutsche Aussenpolitik, aber in grösserem Mass
als bisher auch für die Innenpolitik und hier insbesondere
für die Sozialpolitik. Dabei darf die Sozialpolitik nicht der
Wirtschaftspolitik untergeordnet werden, sondern muss gleichberechtigt
und gleichgewichtig sein.
In Europa besteht
mittlerweile bei aller Ungleichheit der Sozialsysteme ein Konsens
darüber, dass soziale Gerechtigkeit und ökonomische Effizienz
zusammen gedacht werden müssen. In Grossbritannien beispielsweise
prägte Tony Blair den sogenannten dritten Weg".
Es geht darum, freiheitliche Wirtschaftspolitik in einen Ordnungsrahmen
zu setzen. Und es geht darum, dies mit einer auf Eigeninitiative
und Verantwortung setzenden sozialen Politik zu flankieren. Das
ist ein wichtiger Beitrag zum gemeinsamen Weg der europäischen
Sozialdemokratien in die Zukunft.
In Europa ist
die Einsicht gewachsen, dass sich eine Auseinandersetzung mit dem
Sozialstaat nicht in der Kostendiskussion erschöpfen darf.
Immer müssen sowohl der Stellenwert des Sozialsystems innerhalb
einer sozialen Demokratie als auch seine Auswirkungen auf wirtschaftliche
Entwicklung und Erneuerung beachtet werden.
Soziale Sicherung
entfaltet ökonomischen Nutzen hauptsächlich auf drei Feldern:
Eine verantwortungsbewusste Sozialpolitik macht Marktwirtschaft
überhaupt erst akzeptabel, Sozialpolitik erweitert den Spielraum
für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel, der von
der Mehrheit mitgetragen und mitgestaltet wird, und Sozialpolitik
vergrössert und entfaltet das Humankapital.
Wenn breite
Bevölkerungsschichten existentielle Bedrohungen fürchten
müssen, können sie notwendige, unverzichtbare Strukturreformen
nicht akzeptieren. Die soziale Sicherung baut solche Ängste
ab. Der Spielraum für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Strukturwandel wächst in dem Masse, wie die Bürgerinnen
und Bürger Vertrauen in eine sozial ausgewogene Politik haben
können. Sozialstaatlichkeit in Europa ist die Grundlage einer
Vertrauenskultur, die wiederum Voraussetzung für innovatives
und flexibles Wirtschaften ist.
Wenn wir auch
nicht von einem europäischen Sozialmodell sprechen können,
so beobachten wir doch eine neue Form der Konvergenz in Europa.
In den EU-Ländern ist die Einsicht gewachsen, dass wir die
Massenarbeitslosigkeit nur dann wirksam bekämpfen können,
wenn wir eine neue Kultur des Vertrauens schaffen. Die Niederlande
haben uns vorgemacht, wie eine solche Kultur des Vertrauens zwischen
den Wirtschaftsakteuren und dem Staat aussehen kann. Auch Grossbritannien
hat einen Vertrag zwischen der Regierung und der Wirtschaft geschlossen,
um einer innovativen Gesellschaft den Weg in das 21. Jahrhundert
zu ebnen. Fast alle europäischen Länder mit Erfolgen auf
dem Arbeitsmarkt verfügen über ähnliche Bündnisse.
Darum ist auch
für die neue Bundesregierung das Bündnis für Arbeit,
Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit von herausragender Bedeutung.
Wir wollen uns mit Wirtschaft und Gewerkschaften über eine
gemeinsame Analyse der vorliegenden Probleme und Strategien zu ihrer
Lösung verständigen. Das erste Treffen der Bündnispartner
gibt Anlass zu Optimismus, dass wir im Verlaufe dieses Jahres zu
konkreten Absprachen zum Abbau der Arbeitslosigkeit kommen werden.
Generell gilt,
dass eine Balance zwischen wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung
nur möglich wird, wenn wir die schwerste Hypothek, die auf
der sozialen Sicherung ruht, abtragen. Daher müssen alle Anstrengungen
darauf konzentriert werden, wieder mehr Menschen in Arbeit zu bringen.
Die Bundesrepublik
Deutschland hat am 1. Januar 1999 die EU-Präsidentschaft übernommen.
Wir wissen um unsere besondere Verantwortung für die Sozialpolitik
und werden diese wahrnehmen. Mit dem Start des EURO ebenfalls zum
Jahresbeginn wird die soziale Dimension in Europa sprunghaft an
Bedeutung gewinnen. Wir müssen soziale Ausgleichsmechanismen
für den Wegfall der Wechselkursanpassungen finden.
Nur durch eine
Weiterentwicklung der Währungsunion zu einer politischen Union
mit sozialem Charakter kann Europa den Menschen wieder näher
gebracht werden. Deswegen steht die deutsche EU-Präsidentschaft
unter dem Motto "Für ein wirtschaftlich und sozial starkes
Europa".
Drei Hauptaufgaben
sind es, die wir im ersten Halbjahr 1999 offensiv angehen werden
:
1. Wir
müssen auch auf europäischer Ebene die Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit in den Mittelpunkt stellen. Der Stabilitätspakt
muss durch einen wirkungsvollen Beschäftigungspakt ergänzt
werden.
2. Wir
streben den weiteren Ausbau sozialer Mindeststandards an. Ganz oben
auf der Agenda steht hier das seit Jahrzehnten umstrittene Projekt
der Einführung einer europäischen Aktiengesellschaft mit
einer Sicherung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer. Hier wollen
wir endlich zu einer für alle tragbaren Lösung kommen.
3. Wir
wollen die Rolle des Arbeits- und Sozialministerrates stärken
mit dem Ziel, dass die soziale Dimension Europas bei allen anstehenden
wichtigen Entscheidungen ausreichend berücksichtigt wird. Hier
geht es vor allem um Fragen der Osterweiterung, um die Reform der
Strukturfonds und um eine neue Finanzstruktur der EU.
Mit dem Amsterdamer
Vertrag verfügen wir über passende Institutionen und Instrumente.
Die Gestaltungsmöglichkeiten dieser Instrumente werden wir
nutzen und weiterentwickeln. Dabei wollen wir uns in unserem Handeln
mehr in die Pflicht nehmen lassen, als dies in der Vergangenheit
der Fall war.
Europa steht
vor einer riesigen Herausforderung : Rund 17 Millionen Menschen
in der Europäischen Union sind arbeitslos. Diese Herausforderung
müssen wir annehmen und im partnerschaftlichen Miteinander
bewältigen. Wir müssen unsere Wirtschafts-, Finanz- und
Sozialpolitik in Europa noch besser koordinieren. Dazu wird die
deutsche Bundesregierung ihren Beitrag leisten !
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