Patrick
Artus ist auch Direktor der Wirtschaftsstudien an der Caisse des
Dépôts et Consignations und Professor an der Ecole Polytechnique.
Seit der Einführung
des Euro wurde in der Eurozone ein stark beschleunigtes Wachstum
und ein bedeutender Rückgang der Arbeitslosenzahlen beobachtet,
wobei der Euro im selben Zeitraum gegenüber dem Dollar um 12% und
gegenüber dem Yen um 25% verloren hat. Man könnte also versucht
sein, die wirtschaftliche Leistungsstärke im Euro-Raum im Jahre
1999 auf die Schwäche der europäischen Währung zurückzuführen, die
wiederum teilweise als Folge einer expansionistischen Währungspolitik
angesehen werden könnte (der Interventionskurs der Europäischen
Zentralbank ist erst im November von 2 auf 3% angehoben worden).
Die Wirklichkeit erweist sich demgegenüber allerdings als komplizierter,
hat doch in vielen Ländern ein spontaner Anstieg der Binnennachfrage
aufgrund neu auf den Markt gekommener Produkte und Dienstleistungen
eingesetzt, ohne dass ein Zusammenhang mit der externen Wettbewerbsfähigkeit
des Euro-Raumes ersichtlich wäre. Diese Situation soll im folgenden
durch einen Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland veranschaulicht
werden, deren Ausgangsbedingungen in der letzten Zeit genau genommen
stark voneinander abwichen.
Der Konjunkturaufschwung in Frankreich und Deutschland: parallele
Entwicklung und grosse strukturelle Unterschiede
Für das Jahr 2000 wird in Deutschland und in Frankreich nunmehr
mit einer Wachstumsrate in Höhe von 2 bzw. ungefähr 3% gerechnet.
Beide Länder haben bei einer jährlichen Wachstumstendenz von 4%
in Frankreich und 3% in Deutschland ihre Spitzenwerte Anfang des
Jahres 1998 verzeichnet, daran anschliessend allerdings einen stetigen
Wachstumsrückgang, wobei die deutsche Wirtschaft im ersten Halbjahr
1999 in eine Schwächephase geraten ist. Gleichwohl sind die Aussichten
nunmehr ganz ähnlich. In beiden Ländern haben die Unternehmensinvestitionen
zugelegt, die im ersten Halbjahr 99 in Frankreich bei einer Anstiegsrate
von 7%, in Deutschland bei 9% liegen, und die Arbeitslosenrate ist
ebenfalls rückläufig, in Deutschland langsam, in Frankreich schnell.
Gleichwohl ist die scheinbare Ähnlichkeit der Entwicklungen trügerisch.
In Frankreich ist der Konjunkturaufschwung auf eine stark ansteigende
Nachfrage nach Gütern und "neuen" Dienstleistungen (Telekommunikation,
Informatik) zurückzuführen, die seit Anfang 1998 in bereinigten
Jahreszahlen um 6 bis 7% gewachsen ist. Der Arbeitsmarkt ist in
diesem Sektor um 5 bis 6% angestiegen.
In bereinigten Zahlen entstehen in Deutschland die Arbeitsplätze
nicht aufgrund dieser neuen Dienstleistungen. Das Wirtschaftswachstum
ist hier eine Folge der wieder zunehmenden Industrieexporte, vor
allem im Bereich der Automobilindustrie und der Investitionsgüter.
In seiner ausgeprägten Abhängigkeit von der jeweiligen Situation
in der Industrie und dem Weltzyklus bleibt das Wirtschaftsmodell
in Deutschland also weiterhin seinen Traditionen verbunden. Das
französische Wirtschaftsmodell folgt mit einem schnell anwachsenden
Technologiedienstleistungssektor hingegen einer stärker angelsächsisch
geprägten Entwicklungsrichtung. Der Anteil der Industriearbeiterschaft
an der Gesamtzahl der Beschäftigten beträgt in Deutschland noch
34%, während er in Frankreich bei lediglich 23% liegt.
Ist das französische Modell das Modell der Zukunft?
Der parallel verlaufende Wirtschaftsaufschwung in Frankreich und
in Deutschland hat die meisten Beobachter hinsichtlich der Zukunftsaussichten
der jeweiligen Länder überaus optimistisch gestimmt. Dennoch scheint
es, als könne heute ein nachhaltiges Wachstum nicht länger allein
auf der Industrie basieren.
In der Anfangsphase eines zyklischen Konjunkturaufschwungs kommt
es stets zu einer starken Kapitalakkumulation, die den Ländern,
in denen Investitionsgüter produziert werden, zugute kommt. Deren
Industriewachstum ist somit also trügerisch.
Bei Produktivitätszuwächsen in der Industrie, die zwischen 4 und
5% schwanken, ist es mittelfristig ausgesprochen unwahrscheinlich,
dass sich die Zuwachsraten der Industrieproduktion auf diesem Niveau
werden halten können, so dass die Industriearbeiterschaft kontinuierlich
zurückgehen wird.
Demgegenüber zeigt das Beispiel der Vereinigten Staaten, dass Produktionszuwächse
im Dienstleistungssektor bei einem riesigen Potential an Arbeitsmöglichkeiten
dauerhaft sehr niedrig, ja sogar negativ ausfallen können. Daraus
liesse sich der Schluss ziehen, dass ungeachtet einer scheinbaren
Symmetrie der kurzfristigen Entwicklungen die Situation Frankreichs
gegenüber Deutschland mittelfristig deutlich günstiger ist. Es ist
hierbei allerdings durchaus Vorsicht geboten.
Gemeinsame Strukturprobleme jenseits der jeweiligen Konjunkturlage
und der unterschiedlichen Spezialisierungen
Die Konjunkturanalysen und die Strukturanalysen für Europa sind
nur schwer miteinander in Einklang zu bringen. Erstere geben einen
relativ grossen Optimismus zu erkennen mit einem offensichtlich
relativ beständigen Wachstum, während letztere aufgrund der vielfältigen
Probleme, angesichts deren man sich gar die Fragen stellen mag,
warum sie nicht auch das kurzfristige Wachstum blockieren, zu einem
starken Pessimismus Anlass geben. Lassen Sie uns einige Beispiele
für diese Strukturprobleme anführen.
Auch wenn die Arbeitslosenrate der qualifizierten Arbeitskräfte
in Folge des Wachstums rapide zurückgeht, gilt dies doch nicht für
die weniger qualifizierten Arbeitskräfte. Die Arbeitslosenrate in
Abhängigkeit vom Ausbildungsniveau ist aus neben stehender Tabelle
ersichtlich.
Das Wirtschaftswachstum in beiden Ländern wirkt sich, unabhängig
von seinem industriellen oder tertiären Charakter in Deutschland
bzw. Frankreich, günstig auf den Arbeitsmarkt der besser qualifizierten
Arbeitskräfte aus, bleibt aber für die anderen wirkungslos. Europa
läuft damit also Gefahr, in naher Zukunft mit einem Engpass an besser
qualifizierten Arbeitskräften konfrontiert zu sein und sich dabei
als unfähig zu erweisen, die Arbeitslosigkeit im Bereich der gering
Qualifizierten zu senken. Eine Verbesserung dieser Situation würde
wahrscheinlich eine Reform der Sozialabgaben und vielfältigere Formen
von Arbeitsverträgen erforderlich machen, die bis jetzt noch nicht
in Angriff genommen worden sind.
Arbeitslosenrate
und Ausbildungsniveau (in %, 1998, Quelle: OECD)
|
|
Niedrig
|
Mittel
|
Hoch
|
Frankreich |
14.0
|
8.9
|
6.5
|
Deutschland |
13.3
|
7.9
|
4.9
|
Das Abgabensystem in Europa verdient im Grunde weniger wegen seiner
Belastung kritisiert zu werden (bei einer verschiedenartigen institutionellen
Organisation der Rentenversicherung, des Gesundheitssystems, der
Ausbildung usw. ist ein Vergleich der Steuerlast zwischen den Ländern
schwierig), als wegen seiner Struktur: die Sozialbeiträge machen
in Frankreich 23%, in Deutschland 17% des BSP aus. Das stellt ein
starkes Hemmnis zur Schaffung gering qualifizierter Arbeitsplätze
dar, bei denen Arbeitskosten und Arbeitsmarkt ja gerade besonders
eng verbunden sind.
Das zweite bedeutende Strukturproblem, das sowohl Frankreich als
auch Deutschland betrifft, besteht in den Folgen der Überalterung
für die Rentensysteme. In Frankreich liegt heute der Anteil der
über 60jährigen an der Gesamtbevölkerung bei 20, in Deutschland
bei 23%. Im Jahre 2030 wird der Anteil in Frankreich 30, in Deutschland
36% ausmachen. Zur Aufrechterhaltung grosszügiger Rentensysteme
wäre in beiden Ländern eine Geldmasse in Höhe des Bruttosozialprodukts
eines Jahres vonnöten, mit der die künftigen Renten anwachsen könnten.
Frankreich und Deutschland werden demnach also die Renten entweder
stark kürzen müssen oder die Pflichtbeiträge kräftig anheben. In
beiden Fällen bedeutet dies eine grosse finanzielle Belastung für
jeden einzelnen werktätigen oder pensionierten Bürger. Potentieller
Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, unzureichende Vorbereitung
auf die Überalterung - es sind dieselben, schwerwiegenden strukturellen
Probleme.
Und der Euro?
Wir sind bisher noch nicht weiter auf den Euro zu sprechen gekommen.
Kurzfristig lassen sich der normale Konjunkturaufschwung und die
neuen Technologien durch das beschleunigte Wirtschaftswachstum erklären.
Langfristig hängen die Problem mit dem Steuersystem und der demographischen
Entwicklung zusammen. Der Konjunkturaufschwung im Euroraum im Jahre
1999 ist zweifellos zum Teil auf eine mit der Abwertung des Euro
in Zusammenhang stehende verbesserte Wettbewerbsfähigkeit zurückzuführen.
Und weiter? Zwei positive Faktoren können in diesem Zusammenhang
ausgemacht werden. Die Währungsunion wird - wie es ja durchaus bereits
der Fall ist - auch eine Steuerkonkurrenz mit sich bringen, da sich
der Wettbewerb nicht länger über die Wechselkurse vollziehen kann.
Daraus ergeben sich einige negative Aspekte, wenn es z.B. um die
Rückführung der Sozialversicherung geht, aber auch positive, insofern
damit nämlich zu einer Umgestaltung des Steuersystems zugunsten
des Arbeitsmarktes Anstoss gegeben wird.
Darüber hinaus ist in einem Territorium mit einer alternden Bevölkerung
die Fähigkeit von zentraler Bedeutung, sein Erspartes zur künftigen
Rentenfinanzierung klug anzulegen. Die Tatsache, dass der Euroraum
bereits qualitativ bessere internationale Anleihenehmer anzieht,
wirkt für die Bürger des Euroraums als Anreiz, ihr Geld in rentable
Vermögenspapiere ohne Wechselkursrisiken anzulegen.
Der Euro stellt weder ein Heilmittel für die Strukturproblem dar
noch ist er der zentrale Grund für die konjunkturelle Verbesserung.
Gleichwohl wird er dazu beitragen, einige der mittelfristigen Schwierigkeiten,
mit denen Europa konfrontiert ist, zu lösen.
Eigene Übersetzung des Forum
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