Braucht Amerika
Europa? Und wenn ja, was für ein Europa?
Die amerikanische Vision von Europa unterscheidet sich von unserer
eigenen Selbstsicht. Sie scheint eher einem Raum des Friedens und
der Sicherheit zu entsprechen, der sich von den baltischen Staaten
bis zur Türkei erstreckt und seine Tore auch gegenüber Russland
nicht verschließt. Durch dieses geographisch definierte Europa könnte
die für die wirtschaftliche Entwicklung und den Ausbau der Austauschbeziehungen
auf dem alten Kontinent und darüber hinaus notwendige Stabilität
ihre Strahlkraft entfalten. Dieses räumlich bestimmte Europa, das
auf einer politischen Zusammenarbeit beruht, unterscheidet sich
allerdings vor allem im Hinblick auf seine Gestalt und seine Zweckbestimmung
von einem auf einer Integrationspolitik beruhenden Europa als Union.
Das Europa aus Sicht Amerikas ist somit also nicht identisch mit
dem Europa, wie wir es sehen!
Auch wenn unsere Vorstellungen von Europa unterschiedlich sein mögen
und wir in manchen Bereichen aneinander geraten, lässt sich auf
anderen Gebieten eine zunehmende Konvergenz zwischen Europa und
den Vereinigten Staaten beobachten. Seit einigen Jahren lässt sich
nämlich bemerken, wie die Herausbildung einer "neuen atlantischen
Wirtschaft", deren Einfluss weltweit von ausschlaggebender Bedeutung
ist, an Tempo gewinnt.
Sollte diese Annäherung etwa dem Schulterschluss der Zivilisationen,
wie er von Samuel P. Huntington beschrieben wurde, der Verengung
des westlichen "Kulturraumes" (F. Braudel) gemäß unserer kulturellen
Wahlverwandschaft entsprechen, um den möglichen Niedergang der westlichen
Welt zu vermeiden und anderen, auf den Plan tretenden Zivilisationen
die Stirn zu bieten? Im Sinne dieser Logik sollten die verantwortlichen
Politiker Amerikas aufgrund ihres Pragmatismus ein Bewusstsein dafür
entwickeln, dass sie, wenn sie Europa brauchen, damit auch ein Mehr
an Europa brauchen. Wenn nämlich die künftigen Konflikte nicht mehr
eine Folge der Ideologien sein werden, sondern sich aus dem Zusammenprall
der Kulturen ergeben, dann scheint es notwendig zu sein, dass der
europäische Integrationsprozess sich weiterentwickelt, damit Europa
einen kohärenten und starken Pol innerhalb der westlichen Welt spielt.
Europa müsste dann besser durchorganisiert und stärker integriert
sein, um sich dadurch in den Stand zu versetzen, als echter Impulsgeber
innerhalb der transatlantischen Beziehungen aufzutreten und keine
"zweitrangige Macht" (J. Rovan) zu bleiben. In diesem Sinne bedeutet
ein Mehr an Europa nicht ein Weniger an Amerika, sondern ein zusätzliches
Schwungrad für die transatlantischen Beziehungen, wie es beispielsweise
auch der ehemalige Berater von Präsident Carter formuliert: "Gerade
weil die europäische Integration langsam vorangeht und die politischen
Strukturen Europas nicht den amerikanischen entsprechen werden,
braucht Amerika keine Angst davor zu haben, dass ihm ein Rivale
erwächst."
Wenn Europa den Machtstatus erreichen möchte, auf den es Anspruch
erheben kann, dann wäre vor diesem Hintergrund der Gedanke verfehlt,
es strebe einen Alleingang an und wolle eine Abkoppelung der europäischen
von der amerikanischen Verteidigung, wie es der ehemalige Staatssekretär
Henry Kissinger zu fürchten scheint. Es ist vielmehr eine normale
Entwicklung, dass der Aufbau einer wirklichen Europäischen Union
eine wachsende Beteiligung ihrer Vertreter innerhalb der Institutionen
beinhaltet, an denen die verschiedenen Mitgliedstaaten teilnehmen.
Wenn Europa in bestimmten Instanzen mit einer Stimme sprechen möchte,
muss es dazu berechtigt sein, ohne dass deswegen die Institution
selbst in Frage gestellt wird. Dieses Problem stellt sich vor allem
auch im Rahmen der NATO. Europa sollte dazu in der Lage sein, den
"europäischen Pfeiler" zu stärken und eine ESVI zu entwickeln, ohne
dass daraus für die transatlantische Partnerschaft ein Destabilisierungsfaktor
entsteht. Selbst Zbigniew Brzezinski ist denn auch der Ansicht,
dass angesichts der europäischen Integration die Allianz "keiner
Generalüberholung bedarf"; notwendige Anpassungsmaßnahmen werden
nur dann erfolgen, wenn Europa sein Wesen und seine Ziele deutlicher
bestimmt haben wird. Unsere Partner können - selbst einem sich herausbildenden
- Europa gegenüber erst dann eine klare Position einnehmen, wenn
wir deutlicher skizzieren, wonach wir eigentlich streben, weil gerade
unsere eigenen Ungewissheiten bei unseren Partnern zumeist Ängste
wecken.
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