Alle menschlichen
Gebrechen/ Sühnet reine Menschlichkeit
", schreibt
Goethe 1827 in einer Widmung zu Iphigenie auf Tauris. Dieser Gedanke,
wonach der gesellschaftliche Fortschritt untrennbar mit dem moralischen
Fortschritt verbunden ist, ja wonach er dessen vollkommenstes Ergebnis
darstellt, würde vermutlich zur Kennzeichnung des alten, europäischen
Humanismus genügen, dieser Ansicht von dem Menschen, die auf
keines der anderen Modelle, die es auf Erden geben mag, reduziert
werden kann. Der Gedanke nämlich, dass die menschliche Person
im Zentrum der Gesellschaft stehe und dass ihre Menschwerdung sich
weder nur auf die Marktinteressen noch nur auf die Anforderungen
seitens des Staates reduzieren oder sich damit verwechseln lasse.
Die Botschaft,
die Europa der Welt mitteilt, ist eine Botschaft der Kultur, die
sich auf das natürliche Bestreben der Menschen gründet,
sich geistig zu erheben und mit den Mitmenschen brüderliche
Bindungen einzugehen, sowie auf die Existenz eines Aufrufs zur Transzendenz,
der der Zustimmung zum Gesellschaftsvertrag vorangeht. Konkret gesprochen
bedeutet dies, dass Belange politischer Natur - im ursprünglichen
und noblen Wortsinn - vor allen anderen kommen müssen.
Da das Grundprinzip
und die Zielsetzung feststehen, die seit fünfzig Jahren die
Gemeinschaftswerdung bestimmen - politisches Handeln im Dienste
der Entfaltung der Menschen -, muss nurmehr eine neue Methode für
das Europa von morgen definiert werden. Sie gründet in meinen
Augen auf einer notwendigen Strukturierung dieses politischen Willens,
der in einer organisierten Gesellschaft durch die Einrichtung von
anerkannten und von den Völkern legitimierten Institutionen
Ausdruck findet.
In dieser Hinsicht
geht meine Überzeugung dahin, dass Europa erst dann vollendet
sein und seiner vorgesehenen Bestimmung gerecht werden kann, wenn
es mit einem demokratischen, d.h. noch von den einfachsten Bürgern
identifizierbaren politischen Regime versehen wird. Europa hat bisher
nicht wirklich unter seinem demokratischen Defizit gelitten. Die
Bevölkerungen Europas haben sich darüber, wenn sie bisweilen
mit eingebunden oder manchmal, sofern die Landesverfassungen das
vorsahen, direkt befragt wurden, nicht wirklich beklagt. Diese Zeit
aber, die vielleicht den Kindertagen einer werdenden Institution
angemessen war, ist nun vorbei. Denn in demselben Masse wie die
Europawerdung voranschritt, wuchs auch bei den europäischen
Völkern das Gefühl, vielleicht Zeugen zu sein, höchstwahrscheinlich
aber doch eher dessen ohnmächtige Zuschauer. Und so ist das
Bedürfnis nach Transparenz und Beteiligung entstanden wie auch
die Ahnung, dass die freie Entscheidungsgabe der Menschen unter
dieser Dynamik, auf welche sie keinen Einfluss haben, leiden werde.
Dieser zur
Zeit bestehende Bruch zwischen der Europäischen Union und ihren
Mitgliedern macht die Ausarbeitung einer Europäischen Verfassung
notwendiger denn je. "Die Form", so der Jurist Ihering,
"ist die Zwillungsschwester der Freiheit". Anders ausgedrückt:
Die Macht muss geordnet sein. Natürlich gibt es Verträge,
und das Recht zwingt die Gewalt. Aber Europa ist keine Demokratie,
so wie Athen es ehedem war. Diese Demokratie definiere ich als die
Kenntnis, die ein Volk von seinen Regierenden und deren Kompetenzen
besitzt sowie von seinem ihm zukommenden Recht, für einen regelmässigen
Wechsel zu sorgen. In dieser Hinsicht ist noch viel zu tun. Während
Europa mit der EWU ein Gebäude errichtete, das für die
Öffentlichkeit wirklich wahrnehmbar war, schien es sich gleichzeitig
Schritt für Schritt von den politischen Realitäten zu
entfernen, von eben jenen Klauseln des Gesellschaftsvertrags, die
eine Unterordnung der Regierten unter die Regierenden gewährleistet.
Ich glaube,
dass Europas politische Verwirklichung notwendigerweise über
die Ausarbeitung einer Europäischen Verfassung erfolgt, deren
Aufgabe es gerade sein wird, die Bürger der Union über
deren Funktionsweise und Zielsetzung aufzuklären. Wir könnten
dafür hier den Grundstein legen.
Die innige
Freundschaft, die Frankreich und Deutschland verbindet, diese komplexe
Geschichte aus Zuneigung und Hass, diese beiden Gesichter ein und
derselben Passion, würden fraglos dafür Sorge tragen,
dass dieser Text zu beiden Seiten des Rheins in derselben Sprache
verfasst würde. In der Tradition der deutschen Aufklärung
und der französischen "Lumières" stehend würde
er wohl einleitend an die Verbundenheit der Union mit den grossen,
aus der Französischen Revolution hervorgegangenen Prinzipien
erinnern. Wenn nun diese Gründungsschrift für eine neue
politische Ordnung in Europa diese Philosophie wieder aufgriffe,
würde sie sich unweigerlich darum bemühen, die folgenden
Wertvorstellungen in Erinnerung zu rufen, so wie sie letztlich auch
in Artikel 20 des Grundgesetzes von 1949 festgehalten sind: die
Grundsätze eines demokratischen, sozialen und rechtsstaatlich
organisierten Bundesstaates, die sich in den vier Begriffen Legitimität,
Legalität, Gerechtigkeit und Subsidiarität zusammenfassen
lassen.
Das Demokratieprinzip
beruht auf einer Dynamik, jener der Zerbrechlichkeit und der Bedeutung
des Vertrauensbandes, das die Regierenden mit den Regierten verbinden
muss. Dieses Vertrauen beginnt dort, wo die Völker die Führenden
erkennen. In diesem Kontext ist es, glaube ich, für Europa
notwendig, sich einen Kopf und eine Stimme zu geben, die es sowohl
im Innern der Union als auch auf der Weltbühne verkörpern
können. Es sollte einen Präsidenten Europas geben, dessen
Aufgabe es ist, in dessen Namen zu sprechen, und der für die
europäische Exekutive verantwortlich ist. Die Europäische
Verfassung sollte seine Stellung definieren und seine Rechte anführen.
In dem Rechtsstaatsprinzip
kommt die beginnende Unterwerfung der Staaten unter das Recht zum
Ausdruck. Die berühmte Entscheidung des französischen
Verfassungsrates vom 23. August 1985, in der es präzisierend
heisst, dass "das Gesetz den Willen der Allgemeinheit nur unter
Berücksichtigung der Verfassung zum Ausdruck" bringe,
trägt die Notwendigkeit in sich, eine neue Hierarchie zwischen
den europäischen und den nationalen Normen zu begründen,
die von einem europäischen Verfassungsgerichtshof bestätigt
werden müsste.
Das Sozialstaatsprinzip
ist nichts anderes als die moderne Entsprechung des alten Gleichheitsgrundsatzes.
Der soziale Fortschritt, d.h. die allgemeine Verbesserung der Gesamtheit
der individuellen Lebenslagen, muss zu dem vorrangigen Ziel Europas
im 21. Jahrhundert werden. Diesbezüglich darf die Einführung
des Euro nicht den Blick verstellen für die Wirklichkeit eines
von Arbeitslosigkeit und Existenzbedrohungen heimgesuchten Europas.
All unsere Bemühungen müssen sich künftig auf diesen
Kampf hin ausrichten. Vielleicht sollte man, wenn die Konstitutionalisierung
der rechtlichen und wirtschaftlichen Kriterien, so wie sie in dem
Maastricht-Vertrag festgeschrieben sind, erst einmal bewerkstelligt
ist, bei derselben Gelegenheit ein Kriterium sozialer Natur einführen,
das nicht länger nur ein schlichtes Lippenbekenntnis ist.
Das den Deutschen
wohlvertraute Bundesstaatsprinzip schliesslich bedeutet vor allem,
dass klar und deutlich gesagt wird, wer was in der Union tut. Neben
dem pädagogischen Ziel, das solch eine Reform umfasst, bin
ich gleichfalls davon überzeugt, dass - egal ob es sich um
die Union oder die Mitgliedstaaten handelt - eine klare Kompetenzaufteilung
ein Garant für die Effizienz aller betroffenen Institutionen
ist. Auch hier würde es wieder dem Europäischen Verfassungsgericht
oder einer anderen Subsidiaritätsgerichtsbarkeit zufallen,
über die Einhaltung der Kompetenzen eines jeden zu wachen,
so wie es zur Zeit der Karlsruher Gerichtshof tut.
Das sind einige
der Grundprinzipien, die die Väter der kommenden Europäischen
Verfassung anleiten sollten. Es handelt sich um weit mehr als nur
um eine schlichte Kompilation von Rechtsregeln, sondern darum, die
grundlegenden Werte der europäischen Kultur in einer gemeinschaftlichen
Charta zusammenzutragen. Durch ihre Geschichte, ihre Kulturen und
ihre gemeinschaftliche Zukunftsvision schreiben Deutschland und
Frankreich seit mehr als zwei Jahrhunderten zusammen an der Geschichte
dieses Kontinents. In beiden spiegelt sich ein und dasselbe Antlitz
des europäischen Genius wider, dem die Aufgabe zuteil geworden
ist, jene Botschaft des Humanismus, zu dessen weitstrahlendem Symbol
Goethe wurde, durch die Zeiten hinauszutragen.
Eigene
Übersetzung des Forum
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