Joseph
Rovan ist auch Präsident des BILD und Direktor der Zeitschrift "Dokumente"
(F).
Einige Monate
nach der Bildung der Regierung Gerhard Schröder drängt
sich mit dem neuen Kalenderjahr eine Bestandsaufnahme der deutsch-französischen
Freundschaft auf und vor allem auch der Rolle, die diese Freundschaft
in den kommenden Jahren im Dienste einer Fortentwicklung der Europäischen
Union - die zwangsläufig zu einem Bundesstaat werden dürfte
- wird spielen können. Mit einer solchen Fragestellung verbinden
sich eine Reihe von Unbekannten. Die erste betrifft die tatsächliche
Entschlossenheit der französischen und deutschen Führung,
auf dem so vorgezeichneten Weg fortzuschreiten. Die Einheitswährung
beraubt die Staaten nationaler Prägung eines wesentlichen und
symbolischen Bestandteils ihrer Souveränität, der nunmehr
einer fraglos wichtigen Institution, der Europäischen Zentralbank,
zufällt, welche aber keinesfalls als Staat, ja nicht einmal
als Ansatz eines Staates betrachtet werden kann. Die sozialdemokratischen
Führungen in Paris und Bonn haben das Erbe einer vor langer
Zeit eingeleiteten Politik angetreten, von der sie sich weder wirklich
abwenden wollten noch konnten, die von ihnen aber auch nicht als
genau umrissene Etappe auf einem schrittweisen, aber durchaus zügigen
Weg zur Begründung einer wirklichen politischen Einheit verstanden
wurde, welche sowohl die Steuer- als auch die Einwanderungspolitik,
die Arbeitsmarkt- und die Verteidigungspolitik, die Aussen- und
die Kulturförderungspolitik harmonisieren würde; ein solches
Vorhaben ist zu 16 natürlich nicht umsetzbar - solange Grossbritannien
diesen Weg nicht beschreiten will -, und es beinhaltet eine deutliche
Verlangsamung bei einer Öffnung der Union gegenüber neuen
Mitgliedsländern. Wenn man einen europäischen Staat will,
dann muss man ihn augenscheinlich zuerst mit denjenigen Staaten
begründen, die den Willen und die Mittel dazu haben. Die Erweiterung
muss dann also als schrittweise Gestaltung von immer enger werdenden
Bindungen zu den Bewerberstaaten betrachtet werden, die dann allerdings
bis auf weiteres keine vollgültigen Glieder eines Bundesstaates
würden. Sollte die Union nicht auf diesem Wege fortschreiten,
ist es ungewiss, ob die Einheitswährung den zentrifugalen Kräften,
die zuerst ihre Lähmung und schliesslich ihr Auseinanderbrechen
betreiben werden, langfristig wird standhalten können. Trotzdem
wird aus den Verlautbarungen der französischen und der deutschen
Führung - genauso wenig im übrigen wie aus denen ihrer
konservativen Amtsvorgänger - weder unmissverständlich
deutlich, dass der festgelegte Weg ein Weg zu einem europäischen
Staat ist, noch die Etappen auf dem Weg dahin und die dafür
vorbehaltenen Mittel. In Paris gerät die europäische Absichtserklärung
genauso unentschlossen wie in Bonn (und dann wohl auch in Berlin).
Das ist zwar sicher immer noch zuviel für Charles Pasqua, aber
noch nicht genug für die Bürger, die man nur unzureichend
auf grundlegende Weichenstellungen vorbereitet.
Jedwede ernsthafte
Initiative zu einem europäischen Staat kann nur von Persönlichkeiten
sehr hohen Ansehens ausgehen, wie es Churchill, Robert Schumann
und Jean Monnet waren, oder von einer deutsch-französischen
Freundschaft, wenn diese die Unterstützung von anderen hoch
engagierten Mitgliedstaaten wie Italien, Holland oder Belgien erführe,
die darin allerdings aus Furcht vor einer Art deutsch-französischer
Vorherrschaft gebremst werden könnten. Mangels einer allgemein
angesehenen Persönlichkeit drängt sich also der zweite
Weg auf, den zu beschreiten die betroffenen Führungen allerdings
nicht wirklich motiviert erscheinen. Sie müssen somit von Bürgerbewegungen
dazu angestossen werden, wozu in allen Mitgliedsländern und
ganz besonders in Frankreich und Deutschland ein Aufruf erschallen
muss, dem sich die politischen Entscheidungsträger langfristig
nicht entziehen können. Ein solcher Aufruf sollte sich als
grundlegendes Hauptargument der Feststellung bedienen, dass kein
Einzelstaat in Europa noch länger von sich behaupten kann,
er sei souverän. Unabhängigkeit ist künftig nurmehr
auf europäischer Ebene denkbar. In einer globalisierten Welt
können künftig nur noch Weltmächte als souverän
und unabhängig betrachtet werden, die einerseits mindestens
so viele Einwohner besitzen wie die Vereinigten Staaten, deren Wirtschaftskraft
sich andererseits zwischen Wall Street und Pekin behaupten kann
und die auch über eine Militärkapazität verfügen,
die die gesamte Bandbreite an Nuklearwaffen umfasst (genau genommen
müsste man hier besser von Interdependenz sprechen wie zu Zeiten
des Kalten Krieges, als zwischen den USA und der UdSSR Interdependenz
herrschte). Stets stossen Frankreich und Deutschland, die beiden
wichtigsten Länder der Europäischen Union (da Grossbritannien
sich weiterhin selbst ausschliesst), an ihre Grenzen, die ihnen
in ihren Beziehungen zu den wirklich "Grossen" durch ihre
relative Schwäche aufgezwungen sind. Unsere Entscheidungsträger
täuschen ihre Mitbürger allerdings über diese Grenzen
hinweg, sicherlich, weil sie sich selbst darüber hinwegtäuschen
oder auch weil sie sich nicht zu dem Vorschlag einer Begründung
eines europäischen Staates, einer europäischen Weltmacht
durchringen können.
In dieser Situation
herrscht eine Lähmung der deutsch-französischen Strukturen,
die seit 1963 begründet worden sind und die sich nun zu einer
entscheidenden Institutionalisierung weiterentwickeln müssten:
Die beiden Regierungen müssen sich dazu entschliessen, in einer
bestimmten Anzahl von wichtigen Bereichen nur noch gemeinsam Entscheidungen
zu fällen, die von gemeinsamen Beratungsorganen ausgearbeitet
worden sind, vor allem in bezug auf die Europapolitik; aber diese
Entschlossenheit müsste sich auch noch auf höhere Ebenen
erstrecken, zum Beispiel mittels einer gemeinsamen Leitung des Ständigen
Sitzes Frankreichs im Sicherheitsrat. Solche Beispiele hätten
eine ansteckende Wirkung auf andere Mitgliedsländer, die sich
voll und ganz der engen Grenzen ihrer Souveränität bewusst
sind.
Die Bürgerbewegungen,
die die französische und die deutsche Regierung dazu bringen
müssen, ihre Kooperation zu institutionalisieren und dabei
jede Einzelinitiative auszuschliessen (z.B. in der Art der einseitigen
Abschaffung des Wehrdienstes in Frankreich), sollten die Einberufung
einer europäischen Konstituante zur Ausarbeitung des Grundgesetzes
eines europäischen Staates einfordern, so dass dieser - durch
die Zustimmung seiner Bevölkerungen gestärkt - in der
Welt seine Interessen geltend machen und die universellen Werte,
die Europa verkörpert, fördern kann.
Die deutsch-französische
Freundschaft im Dienst eines starken und offenen Europas: Mit diesem
Programm lassen sich kurz vor dem nächsten Jahrtausend unsere
Kräfte anstacheln.
Eigene
Übersetzung des Forum
Veröffentlichungen
- "Mémoire d'un Français qui se souvient d'avoir
été Allemand" - Ed. Seuil, 1999.
- "Bismarck, l'Allemagne, et l'Europe unie - 1898 - 1998 - 2098"
- Ed. Odile Jacob, oct. 1998.
- "L'histoire de l'Allemagne des origines à nos jours" -
Ed. du Seuil, 1994.
- " Citoyens d'Europe" - Ed. Robert
Laffont, 1992.
- "Le Mur et le Golfe" - Ed. de
Fallois, 1991.
- "Les comptes de Dachau" - Ed.
Julliard 1987, rééd. le Seuil 1993.
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