* Joachim
Gauck ist seit dem 3.Oktober 1990 Bundesbeauftragter für die Unterlagen
des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen
Republik (DDR). Er wurde am 24. Januar 1940 in Rostock als Sohn
eines Kapitäns geboren. Nach dem Abitur studierte Gauck Theologie.
Gauck leitete ab 1982 die Kirchentagsarbeit in Mecklenburg. Diese
Funktion erlaubte ihm eine immer offensivere und kritischere Haltung
zu Menschenrechts-, Friedens- und Umweltthemen, durch die er zum
Objekt von Ausspähungs- und Disziplinierungsmaßnahmen des Ministeriums
für Staatssicherheit (MfS) wurde. 1989 gehörte Gauck zu den Mitbegründern
des "Neuen Forum" in seiner Heimatstadt Rostock. Im März 1990 zog
er als Abgeordneter der Bürgerbewegung in die Volkskammer ein und
wurde zum Vorsitzenden des Parlamentarischen Sonderausschusses zur
Kontrolle der Auflösung des MfS gewählt.
Am 21. September 1995 wurde Gauck mit deutlicher Mehrheit wiedergewählt
und zum 3.Oktober 1995 für eine zweite Amtsperiode ernannt. Gauck
ist 1991 zusammen mit fünf weiteren ehemaligen DDR-Bürgern mit der
Theodor-Heuss-Medaille ausgezeichnet worden. Im Oktober 1995 erhielt
er zusammen mit weiteren Ostdeutschen das Bundesverdienstkreuz in
Würdigung seiner Verdienste für die friedliche Revolution 1989.
Am 20. Januar 1999 erhielt er von der Theologischen Fakultät der
Universität Rostock die Ehrendoktorwürde.
Zehn Jahre nach
dem Fall der Mauer danken wir den Politikern, die daran mitgewirkt
haben. Ein ganz besonderer Dank gilt natürlich Helmut Kohl, George
Bush und Michail Gorbatschow, vor allem aber auch anderen Akteuren,
eben jenen, die den Regierenden in der DDR so viel Druck machten,
dass deren Mauern nicht mehr standhielten: den vielen Unbekannten
in Plauen, Potsdam, Guben, Görlitz, Arnstadt, Erfurt, Halle, Magdeburg,
Leipzig, Dresden, Schwerin, Neubrandenburg, Greifswald, Bautzen
und auch in Berlin. Ich kann und will nicht alle Akteure von einst
vertreten; zu vielgestaltig war das Spektrum. Aber als einer von
ihnen, der 1989 in Rostock aktiv war, möchte ich an sie alle erinnern
- mit grossem Ernst und tiefem Dank. Ohne sie hätte sich unser Land
nicht verändert und nicht geöffnet.
Die Sehnsucht nach Freiheit und Recht hat die Angst dieser Menschen
schrittweise besiegt. Beim Gorbatschow-Besuch Anfang Oktober konnte
man in Berlin und anderswo noch die Rufe hören: „Gorbi, hilf!" -
Appelle derer, die sich nur vorstellen konnten, dass Hilfe von oben
kommen müsse. Aber schon kurz danach riefen oft dieselben Menschen:
„Wir sind das Volk!". So sprachen schon Bürger, jedenfalls solche,
die Bürger werden wollten. Es ist unbeschreiblich, was in einem
vorgeht, der sich ein ganzes Leben lang nach Freiheit gesehnt hat
und der dann zum ersten Mal in seiner eigenen Stadt mit seinen eigenen
ängstlichen Landsleuten auf die Strasse geht: Ich bin da, ich finde
meine Würde wieder, ich bin wertvoll, ich bin nicht länger Gefangener
meiner ständigen Begleiterin Angst; ich kann aufstehen. In der Heiligen
Schrift der Christen gibt es eine wunderbare Geschichte: Ein Gelähmter
wird zu Jesus gebracht; der schaut dem Kranken in die Augen und
spricht ihm in seine Seele: „Steh auf, nimm dein Bett und wandle."
Die Herbstrevolutionäre von 1989 wissen, was dieser Text im Politischen
bedeutet. Als sie durch den Atem der Freiheit ermutigt waren, konnten
sie im frühen Dezember die Zwingburgen der Geheimpolizei besetzen
und der allmächtigen Partei ihre Macht aberkennen - ein Traum vom
Leben. Und ganz unerwartet wirklich. Ganz sicher haben wir dabei
von den Erfahrungen der Polen gezehrt, die zehn Jahre vor uns aufgestanden
waren, weit mehr riskiert und schliesslich gewonnen hatten.
Wir alle haben gemerkt, dass die Deutschen nicht unbeschwert gefeiert
haben. Manchmal gibt es gerade bei denen, die damals aktiv waren,
Trauer und Wehmut, weil sie auch etwas verloren haben, nämlich die
Aufbruchstimmung dieser so hektischen, lebendigen Zeit des heissen
Herbstes 1989. Dieses Laboratorium der Politik, das damals entstand,
hatte etwas so Lebendiges und Anrührendes: Basisgruppen in den Städten.
Recht, Verfassung, Bildung, Kultur, Wahlrecht, Verwaltung, Justiz:
Alles sollte neu erfunden werden, bei manchen auch die Wirtschaft,
denn sie suchten nach dem sogenannten dritten Weg. Überall Aktivität
der Inaktiven und Engagement der lange Entmündigten. Da mochten
die vom Westen lange ulken: "Freunde, das Rad ist doch schon erfunden",
mochten "rührend" finden, was sich unter uns vollzog. Es war aber
traumhaft für jeden, der mittat, und riss selbst viele SED-Genossen
mit: Es war ein Traum vom Leben und ganz wirklich!
Wenn wir aber aus der nostalgischen Rückschau über den Verlust dieses
Zustandes heraustreten, erkennen wir zweierlei, einmal etwas Vergängliches:
Der schöne Frühling währt auch in der Politik nicht lange. Und auch
etwas Bleibendes: Nicht in dem, was in dieser Zeit in den Bewegungen
und Basisgruppen erfunden wurde, lag das Neue; das Neue waren der
Anspruch und die Haltungen derer, die in der Regel zum ersten Mal
in ihrem Leben politisch aktiv wurden. Als wir damals sagten „Wir
sind das Volk", knüpften wir an jene Tradition von Aufbegehrenden
an, die einst in Frankreich Liberté, Egalité, Fraternité gefordert
und sich in der Verfassung der Vereinigten Staaten selbstbewusst
zum Souverän erhoben hatten mit dem Satz: „We, the people ...".
Wir waren nicht länger Objekt der Politik, sondern begannen selber
zu gestalten. Wir ermächtigten uns, indem wir an unsere neue Rolle
glaubten und sie annahmen. Manche lernten dabei, Bürgermeister zu
sein, andere Abgeordnete und einige gar Minister. Laienspieler wurden
diese ersten Aktiven von Beobachtern aus dem Westen (Bayern) und
aus dem Osten (Berlin), gerne genannt. Wer damals mittat, weiss:
Ein schönes Laienspiel war das.
Hätte es doch länger gedauert, dass die Laien in der Politik mitspielten
und käme es doch auch jetzt häufiger vor, dass ganz normale Mitbürger
mitspielen!
Die Zeit, die uns damals verblieb, um zu experimentieren und die
eigenen Kräfte zu erproben, war im Unterschied zu der unserer Nachbarländer
in Mittelosteuropa ausserordentlich kurz. Nach der Einheit waren
wir wieder Lehrlinge. Viele fühlten sich fremd im eigenen Land.
Sicher erklärt sich ihre Bitterkeit auch aus neu erfahrener Hilflosigkeit
und Enttäuschung. Sie hatten vom Paradies geträumt und wachten in
Nordrhein-Westfalen auf.
Befreiung war also der erste Schritt. Der Wunsch nach Einheit stand
in der ersten Zeit nicht im Vordergrund, und gerade die Bürgerrechtler
waren spät dran mit dieser Erkenntnis. Es waren Intuition und Ungeduld
des Volkes, die aus dem „Wir sind das Volk" das „Wir sind ein Volk"
machten. Der erste Satz hatte uns die Würde zurückgegeben. Der zweite
liess nicht nur die lange verschüttete Sehnsucht nach der Einheit
der Nation aller Deutschen wieder aufleben, er gab uns den Realismus,
er enthielt die Weisheit des nächsten Schrittes: Nicht eine neu
zu erfindende Demokratie war die Hoffnung der Massen, sondern die
real existierende Demokratie vom Rhein.
Uns Deutschen in West wie Ost war die Perspektive der Einheit ja
fast gänzlich abhanden gekommen. Haben wir nicht geradezu herablassend
über Ronald Reagan gelächelt, als er dem sowjetischen Staatschef
vor dem Brandenburger Tor über die Mauer hinweg seine berühmten
Worte zuraunte: „Please, Mr. Gorbatschow ..."? Es sei auch an jene
erinnert, die nicht auf eine ferne Einheit warten wollten und einzeln
ihren Weg ins Freie suchten: Ausreiser und Flüchtlinge. An sie zu
denken heisst auch, sich derer zu erinnern, die ihren persönlichen
Traum von der Freiheit mit dem Leben bezahlt haben. Beschämt denke
ich manchmal daran, dass auch wir dagebliebenen Oppositionellen
den Freiheitswillen der Weggehenden nicht richtig würdigen konnten.
Tatsächlich hatten sie aber die individuelle Selbstbestimmung im
Leben lange vor anderen umgesetzt.
Ich habe dankbar vernommen, dass mein Vorredner bereits die Toten
des DDR-Grenzregimes gewürdigt hat. Wir denken in dieser Stunde
auch an all die anderen, die die Tage der Befreiung und der Freude
über die Einheit nicht mehr erleben konnten. Ich schliesse die Aufständischen,
Frauen und Männer, des 17. Juni hier ausdrücklich ein.
Gerade heute ist es mir wichtig, daran zu erinnern, dass vor der
Einheit die Freiheit unser Thema war. Wir machen uns diese politische
Erfahrung als etwas besonders Kostbares bewusst, eben weil diese
Nation eine so lange Tradition der Unterdrückung hat: fürstlich,
absolutistisch, kaiserlich, diktatorisch.
Ebenso vielfältig war die politische Ohnmacht der Untertanen. Wie
spärlich ist in dieser Nation die Tradition von Selbstbestimmung
und Freiheitsrevolution! Tatsächlich haben die Ostdeutschen mir
ihrer Revolution nicht nur sich selbst, sondern allen Deutschen
ein historisches Geschenk gemacht. Wir alle gehören nun zur Familie
der Völker, die durch Freiheitsrevolutionen gekennzeichnet sind,
und haben für unsere niederländischen, französischen, polnischen
und tschechischen Nachbarn ein besseres, vertrauenswürdigeres Gesicht.
Das ist das Geschenk der Ostdeutschen an die Westdeutschen. Gerade
angesichts unserer 56jährigen politischen Ohnmacht in Nationalsozialismus
und Herrschaftskommunismus erstrahlt der Mut der Widerständigen
von 1989 um so heller. Trotz aller Erblasten der Diktaturen können
wir den Westdeutschen nunmehr auf Augenhöhe begegnen - zwar ärmer,
aber nicht als Gebrochene und ganz bestimmt nicht als Bettler.
Aber gleichzeitig gibt es auch ein Geschenk der Westdeutschen an
uns Ostdeutsche; es ist nicht in erster Linie materiell. Aus Nazi-Untertanen
und Nostalgikern der Nachkriegszeit sind Demokraten geworden, wohl
auch, weil die Generation der Söhne und Töchter 1968 so unbequem
nach Schuld und Verantwortung fragte. Eine zivile Gesellschaft ist
entstanden. Mit der Einheit haben auch wir Anteil an diesen Erfahrungen.
40 Jahre Freiheit und Demokratie und Frieden hatte die deutsche
Nation in ihrer Geschichte bis dahin noch nicht erlebt.
Die Menschen dieser Nation haben sich also gegenseitig beschenkt.
Hoffentlich können wir, wenn wir uns in 10 Jahren erneut treffen,
dieses Geschenk bewusster und freudiger annehmen.
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