Ich freue mich
über die Initiative des Deutsch-Französischen Forums, den Herausforderungen
des Jahres 2000 eine Sondernummer zu widmen, und will diesbezüglich
gerne versuchen, den Standpunkt des Europäischen Parlaments darzulegen.
Vor allem aber möchte ich betonen, wie glücklich ich war, an den
Veranstaltungen anlässlich des 10. Jahrestages des Mauerfalls und
der deutschen Wiedervereinigung am 9. November in Berlin teilzunehmen.
Meine Teilnahme war mir besonders deswegen wichtig, weil dadurch
die europäische Dimension dieser Wiedervereinigung betont wurde.
Die Jugendlichen, zu denen ich gesprochen habe, sind die Zukunft
des wiedervereinigten Europas. Wir, die Verantwortlichen aus Politik,
Wirtschaft und Gesellschaft, müssen sie davon überzeugen, sich an
der Weiterentwicklung der Europäischen Union im 21. Jahrhundert
zu beteiligen.
Die Europäische Union ist im Jahre 2000 in zweifacher Hinsicht mit
Herausforderungen konfrontiert. Hinsichtlich der inneren Angelegenheiten
müssen wir Europa seinen Bürgern näherbringen, indem wir dem "europäischen
Alltag" Konturen geben und indem wir die europäischen Institutionen
reformieren, um die Osterweiterung der Union effizient gestalten
zu können. Darüber hinaus müssen wir hinsichtlich ihrer Aussenbeziehungen
das Verhältnis zu unseren Partnern neu definieren und gestalten,
unabhängig davon, ob es sich um Entwicklungsländer oder Industrieländer
handelt.
Wenn wir wollen, dass unsere Mitbürger ein Gefühl der Zugehörigkeit
zur Union entwickeln, dann müssen wir beim europäischen Alltag ansetzen.
Sie können darauf vertrauen, dass das Europäische Parlament die
Mitentscheidungsbefugnis, die es gemeinsam mit dem Ministerrat innehat,
bestmöglich nutzen wird, damit die EU in dieser Hinsicht tätig wird.
Ich denke hier insbesondere an die Notwendigkeit einer echten Politik
im Bereich der Gesundheit und der Nahrungsmittelsicherheit, an eine
Politik des Umweltschutzes, die die Interessen der Verbraucher mit
jenen der Erzeuger vereinbart, an eine Sozialpolitik, die dem Dialog
zwischen den Sozialpartnern grösste Bedeutung beimisst, und an eine
Bildungspolitik, die es allen unseren Jugendlichen ermöglicht, sich
als Europäer zu fühlen.
Sodann denke ich an die Reform der Institutionen, die eine Vorbedingung
für jede neue Erweiterung ist. Wie Sie wissen, wurde kurz vor der
Tagung des Europäischen Rates in Helsinki am 10. und 11. Dezember
1999 eine Regierungskonferenz eröffnet. Das Europäische Parlament
hat auf sein Recht auf eine enge Beteiligung gepocht, weil es davon
überzeugt ist, dass die Union ihren Entscheidungsprozess reformieren
muss, wenn sie ihre Ziele erreichen will. Wenn man bedenkt, dass
dieser Prozess, insbesondere auf der Ebene des Ministerrates, seit
der Entstehung der Europäischen Gemeinschaften, also eines Europa
mit sechs Mitgliedstaaten, im Grunde immer unverändert geblieben
ist, kann man unmöglich das Gegenteil behaupten. Nun zeichnet sich
am Horizont eine Europäische Union mit mindestens 27 Mitgliedern
ab… Die Mitgliedstaaten dürfen nicht vergessen, dass es keine Erweiterung
geben wird, wenn das Europäische Parlament nicht grünes Licht dazu
gibt.
Durch diese Reform muss Europa auch für seine Bürger verständlich
werden. Dies erfordert eine Vereinfachung der Verträge. Ich persönlich
glaube, dass auf der Regierungskonferenz eine Idee gründlich geprüft
werden sollte, die von Herrn Jean-Luc Dehaene und den beiden anderen
"Weisen" angeregt wurde, die den Bericht an Herrn Prodi ausgearbeitet
haben. Sie schlagen darin vor, die Autorität des Präsidenten der
Europäischen Kommission zu stärken und die Verträge in zwei Teile
zu gliedern, einen konstitutionellen und einen operationellen Teil,
wobei der letztere flexibler gehandhabt werden könnte. Dieser Ansatz
geht auf unser Anliegen der "Verständlichkeit der Tätigkeit der
EU" zurück.
Schliesslich denke ich an die konkrete Umsetzung des Raumes der
Sicherheit, der Freiheit und des Rechts, für den der Europäische
Rat von Tampere am 15. und 16. Oktober 1999 den Startschuss gegeben
hat. Damit wurde zwar ein entsprechender Prozess in Gang gesetzt,
aber jetzt müssen Taten folgen. Das EP wird den nötigen Druck auf
den Ministerrat ausüben, damit dieser schnell handelt. Dabei wird
es einerseits auf die Fristen hinweisen, die sich der Europäische
Rat selbst gesetzt hat, und andererseits auf die Fortschrittsberichte
zurückgreifen, die die Kommission regelmässig vorlegen muss. Diesbezüglich
wird sich das Parlament stets bewusst bleiben, dass alle Aspekte
dieses Raums direkte Auswirkungen auf den Alltag unserer Mitbürger
haben. Insbesondere handelt es sich hier auch um den Rechtsraum,
der sich in einem Justizsystem niederschlagen muss, das für alle
Bürger unabhängig davon, in welchem Staat sie ihren Wohnsitz haben,
leicht zugänglich sein sollte; ausserdem geht es um die Beschleunigung
der Verfahren zur gegenseitigen Anerkennung von Urteilen, um die
Bekämpfung der Kriminalität und insbesondere der Geldwäsche und
des Drogenhandels, um die Umsetzung einer Zuwanderungspolitik auf
der Grundlage der gerechten Behandlung der Staatsbürger von Drittländern,
die ihren legalen Wohnsitz in den Mitgliedstaaten haben, und um
die Bekämpfung der illegalen Einwanderung, wobei eine Vermischung
zwischen illegalen Einwanderern einerseits und Asylbewerbern andererseits
zu vermeiden ist.
International muss die Europäische Union ihre Fähigkeit unter Beweis
stellen, eine gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik umzusetzen,
die diesen Namen verdient. Sie konnte leider nicht rechtzeitig auf
das Drama in Bosnien reagieren. Andererseits konnten die 15 Mitgliedstaaten
erstmals in ihrer Geschichte einmütig auf den Ausbruch von Gewalt
und Hass im Kosovo reagieren. Die Vorrangstellung der Vereinigten
Staaten ist zwar nicht zu leugnen, ich bin jedoch davon überzeugt,
dass jedermann in einigen Jahren sagen wird, dass die politische
Union Europas im Kosovo geboren wurde. Das konnte ich anlässlich
meines Besuchs in Pristina und Mitrovica am 20. und 21. September
1999 feststellen, bei dem mir bewusst wurde, wie sehr die Bevölkerung
erwartet, dass die Union sie auf dem Weg zum Frieden und zum Wiederaufbau
unterstützt. Es bleibt dahingestellt, ob die EU ihren Beitrag zur
Aussöhnung leisten kann. Die Herzen bluten noch, und es wird ein
langer Weg. Die Erhaltung eines multiethnischen Kosovo war jedoch
gerade der Grund für das Eingreifen der internationalen Gemeinschaft.
Es gibt keine Aussen- und Sicherheitspolitik ohne gemeinsame Rüstungspolitik.
In diesem Zusammenhang glaube ich, dass die jüngsten deutsch-französischen
Zusammenschlüsse im Bereich der Rüstungsindustrie beispielhaften
Charakter haben. Was das Europäische Parlament angeht, so wird es
in diesem Bereich sehr eng mit "Mr. GASP" zusammenarbeiten, der
bereits am 17. November 1999 eine Rede vor dem Plenum gehalten und
sich dazu verpflichtet hat, enge Beziehungen zu unserer Institution
zu unterhalten. Hier fehlte der Union eine Stimme und ein Gesicht,
die wir nun mit Javier Solana gefunden haben. Er kann auf unsere
Unterstützung zählen.
Schliesslich muss es uns gelingen, die im Rahmen der Welthandelsorganisation
geltenden Vorschriften neu zu definieren, was beweist, wie stark
unsere Innen- und Aussenpolitik miteinander verknüpft sind. Alles
deutet nämlich darauf hin, dass sich die Öffentlichkeit zunehmend
der Ungleichgewichte bewusst wird, die eine schlecht gesteuerte
Globalisierung schaffen kann. Es reicht nicht, Handelsfragen zu
besprechen, sondern es ist auch zu gewährleisten, dass die Liberalisierung
keine schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit unserer Mitbürger
hat, und vor allem, dass dadurch ihre Gesellschaftsmodelle nicht
in Frage gestellt werden.
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