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Ein größeres Europa, ein bürgernahes Europa eine Chance,
die nicht vertan werden sollte
Die wohlmeinendsten Ideen sind keine Selbstverständlichkeit: Die Vorstellung, dass ein friedliches, wohlhabendes und geeintes Europa kein kostbares Gut mehr, sondern etwas Gegebenes sei, wäre fehl am Platz. Europa ist so gebaut, dass es auseinanderbrechen kann, wenn es sich nicht ständig weiterentwickelt. Die Forderung "Vorwärts Europa!" ist nicht ausreichend. Wenn Frankreich und Deutschland es allerdings gemeinsam sagen und gemeinsam die Schritte in die Zukunft planen, ist alles möglich. Damit erinnert uns der Autor darn, wie wichtig das deutsch-französische Gespann ist, damit Europa nach und nach mit der Unterstützung durch die Bevölkerungen den Platz einnimmt, der ihm zukommt. © 2001
André BORD - Ehemaliger Minister - Präsident der
Interministeriellen Kommission für deutsch-französische
Zusammenarbeit


Die Umstände an sich sind im Grunde außergewöhnlich: In diesem Jahr 2001, im Anschluss an den Gipfel von Nizza, durch den die Entscheidungsfindung vor dem Hintergrund der Erweiterung verbessert werden kann, erfolgt der Startschuss zu einer neuen Dynamik in Europa, das in eine qualitativ und quantitativ beispiellose Phase eingetreten ist. An Kritik an dem Abkommen hat es freilich nicht gefehlt, weil man angeblich dies machen bzw. jenes hätte lassen sollen. Doch ist es das ewig gleiche Lied, das immer dann ertönt, wenn Partnerländer zu wechselseitigen Zugeständnissen gezwungen sind. Die Mechanismen des Gemeinschaftsprozesses waren ja bekanntlich seit den Römischen Verträgen 1957 immer schon komplex und sind es noch mehr, wenn mit 15 ein Einvernehmen erzielt werden muss und man dabei auf den Zeitpunkt vorausblickt, wo es 27 Mitgliedstaaten sein werden.

Freundschaftliche Begegnung in Blaesheim

Diese Kritiken sind glücklicherweise infolge der ausgesprochen starken Signalwirkung, die von dem freundschaftlichen, nützlichen, ehrlichen und hellsichtigen Treffen in Blaesheim am 31. Januar zwischen dem französischen Staatspräsidenten und dem Premierminister sowie dem Bundeskanzler und den beiden Außenministern ausgegangen war, verstummt, was nur ihren Mangel an Substanz belegt. Das Abendessen auf dem Blaesheimer Gipfel endete schließlich, wie es Staatspräsident Chirac betonte, mit einer "gemeinsamen Vision" Europas, und der Bundeskanzler sah darin eine "historische Chance" für alle Bürger des Kontinents. Dort wurde auch der Beschluss gefasst, dass die französischen und deutschen Entscheidungsträger sich künftig alle sechs bis acht Wochen treffen würden. In diesem Abstand hatten sie sich ja auch bereits seit dem Gipfel von Vittel im November 2000 getroffen.

Während der gesamten zweiten Hälfte des zurückliegenden Jahres war es ein Hauptanliegen der französischen Präsidentschaft, auf die Bürger und ihre Erwartungen zuzugehen: Mit der Grundrechtecharta verfügt die Union nun endlich über einen jedem zugänglichen Vertragstext, in dem die Werte, die unser Schicksal begründen, unmissverständlich verzeichnet sind. In einer europäischen Sozialagenda wurde das Programm für die nächsten Jahre festgelegt, damit unsere Staaten parallel zueinander an der Verbesserung der Lebensbedingungen, der Teilnahme am Arbeitsleben, der Schutz- und Sicherheitsvorkehrungen aller Einwohner der EU arbeiten.

Unter der französischen Präsidentschaft konnten dauerhafte Strukturen für die Organe der Europäischen Verteidigungsstreitkraft und für die Kooperation zwischen der NATO und den 15 europäischen Staaten ins Leben gerufen werden. In Zukunft kann Europa die Krisen bewältigen, es stellt nunmehr auf internationaler Ebene eine starke Persönlichkeit dar und kann sich glaubhaft behaupten und gegenüber äußeren Herausforderungen autonom handeln.

Es musste ebenfalls gewährleistet werden, dass die in Helsinki beschlossene Erweiterung auf funktionsfähigen und legitimen Institutionen aufbauen kann: In Zukunft wird die Entscheidungsfindung effizienter erfolgen und innerhalb der erweiterten Union dank einer größeren Ausgewogenheit bei der Stimmabgabe zwischen den Mitgliedstaaten eine größere Legitimität besitzen. Der Anwendungsbereich der qualifizierten Mehrheit wurde auf neue Politikfelder ausgeweitet und die verstärkte Zusammenarbeit wird leichter in Angriff genommen werden können.

Hätte mehr erreicht werden können? Angesichts der Differenzen bei den Ausgangspositionen der 15 Mitgliedstaaten lautet die Antwort: Nein. Hätte man wegen einer Art Maximalposition lieber auf eine Übereinkunft verzichten sollen? Nein, weil sonst die Verhandlungen mit den Beitrittskandidaten beeinträchtigt worden wären. Eine Weiterentwicklung musste erzielt werden.

Das Partnerland entdecken

Bisweilen wurden die im Grunde ja natürlichen und keineswegs neuen Interessendivergenzen zwischen Frankreich und Deutschland auf einigen europäischen Feldern kritisiert. Der Europa-Gedanke habe sie, wie es hieß, früher einmal zusammengeführt, heute spalte Europa sie. Dabei wird allerdings vergessen, dass unterschiedliche politische Einschätzungen zwischen den beiden Ländern stets bestanden haben und auch dass sie stets überwunden worden sind.

Die deutsch-französische Partnerschaft ist weder eine Verschmelzung noch eine Vermischung. Ein "Frankland", in dem die Partner ihre Identität aufgeben würden, gibt es nicht. Jeder hat seine eigene Identität, und das ist auch gut so. Europa baut gerade auf dieser Komplementarität auf. Durch die Einigung der verschiedenen europäischen Länder verschwindet noch nicht ihre jeweilige Andersartigkeit, sondern es entsteht dadurch vielmehr eine Bereicherung, die eben mehr ist als eine schlichte Addition von 15, später dann 27 Einheiten in wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Hinsicht. Vor diesem Hintergrund ist es mehr denn je notwendig, sich mit den Partnerländern vertraut zu machen, was nur über den Ausbau einer europäischen Dreisprachigkeit und die Präsenz des jeweiligen Partners vor Ort erfolgen kann. Beispielsweise sollten wir darauf achten, dass unser Netz an Kulturinstituten in Deutschland effizienter gestaltet wird, um neue Initiativen angehen zu können.

Straßburg als europäisches Gravitationszentrum

In Nizza hat sich der Horizont zu einem weiten Raum hin geöffnet: Die Aussicht auf eine Erweiterung ist in greifbarer Nähe, der Motor läuft. Die notwendigen Sicherheiten auf diesem Weg, der Herausforderungen mit sich bringt, wurden in die Wege geleitet. Es gibt keinen Grund, kehrtzumachen, als ginge es gegen unseren Willen, weil die Europäer nur noch zehn Prozent der Weltbevölkerung ausmachen und weil wir dem Einfluss anderer Regionen unseres Planeten immer stärker ausgesetzt sind. Wir stehen heute anderen Zivilisationsmodellen gegenüber. In Asien entfaltet sich gerade eine Bevölkerungsdynamik einer ganz anderen Größenordnung. Angesichts dessen bedeutet ein größeres und stärkeres Europa, das sich sowohl seiner selbst als auch seiner Werte bewusster ist, eine Möglichkeit, die Möglichkeit zu einer Weiterentwicklung und die Möglichkeit des Glücks.

Das Straßburger Stadtgebiet zählt mehr als eine halbe Millionen Einwohner, sein städtisches zu beiden Seiten des Rheins vernetztes Einzugsgebiet bildet allerdings eine Millionenmetropole - ein Zentrum für Austausch, Innovation und Kultur -, die auf Dienstleistungen beruht, auf einem wissenschaftlich-universitären Potenzial und auf Industrieansiedlungen mit hohem Wertzuwachs. Seine europäische Bestimmung, seine Brückenfunktion für den gesamten Raum des Kontinents, ruht auf soliden Grundfesten, und wir Franzosen und Deutsche treten somit also zu Recht, aber auch mit großer Überzeugung und den internationalen Abkommen gemäß für die Bedeutung Straßburgs als Sitz europäischer Institutionen ein. Vor allem die europäischen Abgeordneten müssen diese demokratische Bestimmung Straßburgs verfolgen und das Gros ihrer Tätigkeiten sowohl während der wünschenswerterweise vollständigen Sitzungsperiode dort ausüben als auch außerhalb: An europäischen Aufgaben mangelt es nämlich gewiss nicht.

Auch an regionalen Aufgaben herrscht kein Mangel. Das Elsass hat eine beispielhafte Zusammenarbeit angestrengt, natürlich mit den deutschen Nachbarländern, aber auch mit der Schweiz und Luxemburg. Diese nachbarschaftliche Kooperation, die es der deutschen und der französischen Jugend ermöglichen soll, grenzüberschreitend einen Arbeitsplatz zu finden, sportliche oder auch andere Freizeitbeschäftigungen zu teilen und sich in den Medien des Nachbarlandes zu Wort zu melden, ist eine unerlässliche Ergänzung der europäischen Einigung großen Maßstabes vor dem Hintergrund der Globalisierung. Die Kenntnisse des Nachbarlandes und seines Alltags müssen den weltweiten kybernetischen Kommunikationsstrom begleiten. Nur so kann nach und nach, durch die konkrete Auseinandersetzung mit den lokalen Lebensformen, durch den Umgang mit den Sprachen ein europäisches Bewusstsein entstehen.

Eine Hoffnung für unsere Kinder

Die wohlmeinendsten Ideen sind deswegen noch keine Selbstverständlichkeit: Die Vorstellung, dass ein friedliches, wohlhabendes und geeintes Europa kein kostbares Gut mehr, sondern etwas Gegebenes sei, wäre fehl am Platz. Europa ist so gebaut, dass es ohne eine Fortentwicklung auseinanderbrechen kann. Die Forderung "Vorwärts Europa!" ist nicht ausreichend, wenn Frankreich und Deutschland es allerdings gemeinsam sagen und gemeinsam die Schritte in die Zukunft planen, ist alles möglich. Genau das haben am 31. Januar am Niederrhein Staatspräsident Chirac, der französische Premierminister und Kanzler Schröder gemeinsam mit den verantwortlichen Leitern des diplomatischen Korps der beiden Länder getan. Denn: Europa zu fördern, ist mehr als eine Kraft, es ist unsere Zukunftschance, es ist die Hoffnung für unsere Kinder.

Übersetzung Forum (MT)



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