Die Umstände
an sich sind im Grunde außergewöhnlich: In diesem Jahr
2001, im Anschluss an den Gipfel von Nizza, durch den die Entscheidungsfindung
vor dem Hintergrund der Erweiterung verbessert werden kann, erfolgt
der Startschuss zu einer neuen Dynamik in Europa, das in eine qualitativ
und quantitativ beispiellose Phase eingetreten ist. An Kritik an
dem Abkommen hat es freilich nicht gefehlt, weil man angeblich dies
machen bzw. jenes hätte lassen sollen. Doch ist es das ewig
gleiche Lied, das immer dann ertönt, wenn Partnerländer
zu wechselseitigen Zugeständnissen gezwungen sind. Die Mechanismen
des Gemeinschaftsprozesses waren ja bekanntlich seit den Römischen
Verträgen 1957 immer schon komplex und sind es noch mehr, wenn
mit 15 ein Einvernehmen erzielt werden muss und man dabei auf den
Zeitpunkt vorausblickt, wo es 27 Mitgliedstaaten sein werden.
Freundschaftliche
Begegnung in Blaesheim
Diese Kritiken
sind glücklicherweise infolge der ausgesprochen starken Signalwirkung,
die von dem freundschaftlichen, nützlichen, ehrlichen und hellsichtigen
Treffen in Blaesheim am 31. Januar zwischen dem französischen
Staatspräsidenten und dem Premierminister sowie dem Bundeskanzler
und den beiden Außenministern ausgegangen war, verstummt,
was nur ihren Mangel an Substanz belegt. Das Abendessen auf dem
Blaesheimer Gipfel endete schließlich, wie es Staatspräsident
Chirac betonte, mit einer "gemeinsamen Vision" Europas, und der
Bundeskanzler sah darin eine "historische Chance" für alle
Bürger des Kontinents. Dort wurde auch der Beschluss gefasst,
dass die französischen und deutschen Entscheidungsträger
sich künftig alle sechs bis acht Wochen treffen würden.
In diesem Abstand hatten sie sich ja auch bereits seit dem Gipfel
von Vittel im November 2000 getroffen.
Während
der gesamten zweiten Hälfte des zurückliegenden Jahres
war es ein Hauptanliegen der französischen Präsidentschaft,
auf die Bürger und ihre Erwartungen zuzugehen: Mit der Grundrechtecharta
verfügt die Union nun endlich über einen jedem zugänglichen
Vertragstext, in dem die Werte, die unser Schicksal begründen,
unmissverständlich verzeichnet sind. In einer europäischen
Sozialagenda wurde das Programm für die nächsten Jahre
festgelegt, damit unsere Staaten parallel zueinander an der Verbesserung
der Lebensbedingungen, der Teilnahme am Arbeitsleben, der Schutz-
und Sicherheitsvorkehrungen aller Einwohner der EU arbeiten.
Unter der französischen
Präsidentschaft konnten dauerhafte Strukturen für die
Organe der Europäischen Verteidigungsstreitkraft und für
die Kooperation zwischen der NATO und den 15 europäischen Staaten
ins Leben gerufen werden. In Zukunft kann Europa die Krisen bewältigen,
es stellt nunmehr auf internationaler Ebene eine starke Persönlichkeit
dar und kann sich glaubhaft behaupten und gegenüber äußeren
Herausforderungen autonom handeln.
Es musste ebenfalls
gewährleistet werden, dass die in Helsinki beschlossene Erweiterung
auf funktionsfähigen und legitimen Institutionen aufbauen kann:
In Zukunft wird die Entscheidungsfindung effizienter erfolgen und
innerhalb der erweiterten Union dank einer größeren Ausgewogenheit
bei der Stimmabgabe zwischen den Mitgliedstaaten eine größere
Legitimität besitzen. Der Anwendungsbereich der qualifizierten
Mehrheit wurde auf neue Politikfelder ausgeweitet und die verstärkte
Zusammenarbeit wird leichter in Angriff genommen werden können.
Hätte
mehr erreicht werden können? Angesichts der Differenzen bei
den Ausgangspositionen der 15 Mitgliedstaaten lautet die Antwort:
Nein. Hätte man wegen einer Art Maximalposition lieber auf
eine Übereinkunft verzichten sollen? Nein, weil sonst die Verhandlungen
mit den Beitrittskandidaten beeinträchtigt worden wären.
Eine Weiterentwicklung musste erzielt werden.
Das Partnerland
entdecken
Bisweilen wurden
die im Grunde ja natürlichen und keineswegs neuen Interessendivergenzen
zwischen Frankreich und Deutschland auf einigen europäischen
Feldern kritisiert. Der Europa-Gedanke habe sie, wie es hieß,
früher einmal zusammengeführt, heute spalte Europa sie.
Dabei wird allerdings vergessen, dass unterschiedliche politische
Einschätzungen zwischen den beiden Ländern stets bestanden
haben und auch dass sie stets überwunden worden sind.
Die deutsch-französische
Partnerschaft ist weder eine Verschmelzung noch eine Vermischung.
Ein "Frankland", in dem die Partner ihre Identität aufgeben
würden, gibt es nicht. Jeder hat seine eigene Identität,
und das ist auch gut so. Europa baut gerade auf dieser Komplementarität
auf. Durch die Einigung der verschiedenen europäischen Länder
verschwindet noch nicht ihre jeweilige Andersartigkeit, sondern
es entsteht dadurch vielmehr eine Bereicherung, die eben mehr ist
als eine schlichte Addition von 15, später dann 27 Einheiten
in wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Hinsicht. Vor diesem
Hintergrund ist es mehr denn je notwendig, sich mit den Partnerländern
vertraut zu machen, was nur über den Ausbau einer europäischen
Dreisprachigkeit und die Präsenz des jeweiligen Partners vor
Ort erfolgen kann. Beispielsweise sollten wir darauf achten, dass
unser Netz an Kulturinstituten in Deutschland effizienter gestaltet
wird, um neue Initiativen angehen zu können.
Straßburg
als europäisches Gravitationszentrum
In Nizza hat
sich der Horizont zu einem weiten Raum hin geöffnet: Die Aussicht
auf eine Erweiterung ist in greifbarer Nähe, der Motor läuft.
Die notwendigen Sicherheiten auf diesem Weg, der Herausforderungen
mit sich bringt, wurden in die Wege geleitet. Es gibt keinen Grund,
kehrtzumachen, als ginge es gegen unseren Willen, weil die Europäer
nur noch zehn Prozent der Weltbevölkerung ausmachen und weil
wir dem Einfluss anderer Regionen unseres Planeten immer stärker
ausgesetzt sind. Wir stehen heute anderen Zivilisationsmodellen
gegenüber. In Asien entfaltet sich gerade eine Bevölkerungsdynamik
einer ganz anderen Größenordnung. Angesichts dessen bedeutet
ein größeres und stärkeres Europa, das sich sowohl
seiner selbst als auch seiner Werte bewusster ist, eine Möglichkeit,
die Möglichkeit zu einer Weiterentwicklung und die Möglichkeit
des Glücks.
Das Straßburger
Stadtgebiet zählt mehr als eine halbe Millionen Einwohner,
sein städtisches zu beiden Seiten des Rheins vernetztes Einzugsgebiet
bildet allerdings eine Millionenmetropole - ein Zentrum für
Austausch, Innovation und Kultur -, die auf Dienstleistungen beruht,
auf einem wissenschaftlich-universitären Potenzial und auf
Industrieansiedlungen mit hohem Wertzuwachs. Seine europäische
Bestimmung, seine Brückenfunktion für den gesamten Raum
des Kontinents, ruht auf soliden Grundfesten, und wir Franzosen
und Deutsche treten somit also zu Recht, aber auch mit großer
Überzeugung und den internationalen Abkommen gemäß
für die Bedeutung Straßburgs als Sitz europäischer
Institutionen ein. Vor allem die europäischen Abgeordneten
müssen diese demokratische Bestimmung Straßburgs verfolgen
und das Gros ihrer Tätigkeiten sowohl während der wünschenswerterweise
vollständigen Sitzungsperiode dort ausüben als auch außerhalb:
An europäischen Aufgaben mangelt es nämlich gewiss nicht.
Auch an regionalen
Aufgaben herrscht kein Mangel. Das Elsass hat eine beispielhafte
Zusammenarbeit angestrengt, natürlich mit den deutschen Nachbarländern,
aber auch mit der Schweiz und Luxemburg. Diese nachbarschaftliche
Kooperation, die es der deutschen und der französischen Jugend
ermöglichen soll, grenzüberschreitend einen Arbeitsplatz
zu finden, sportliche oder auch andere Freizeitbeschäftigungen
zu teilen und sich in den Medien des Nachbarlandes zu Wort zu melden,
ist eine unerlässliche Ergänzung der europäischen
Einigung großen Maßstabes vor dem Hintergrund der Globalisierung.
Die Kenntnisse des Nachbarlandes und seines Alltags müssen
den weltweiten kybernetischen Kommunikationsstrom begleiten. Nur
so kann nach und nach, durch die konkrete Auseinandersetzung mit
den lokalen Lebensformen, durch den Umgang mit den Sprachen ein
europäisches Bewusstsein entstehen.
Eine Hoffnung
für unsere Kinder
Die wohlmeinendsten
Ideen sind deswegen noch keine Selbstverständlichkeit: Die
Vorstellung, dass ein friedliches, wohlhabendes und geeintes Europa
kein kostbares Gut mehr, sondern etwas Gegebenes sei, wäre
fehl am Platz. Europa ist so gebaut, dass es ohne eine Fortentwicklung
auseinanderbrechen kann. Die Forderung "Vorwärts Europa!" ist
nicht ausreichend, wenn Frankreich und Deutschland es allerdings
gemeinsam sagen und gemeinsam die Schritte in die Zukunft planen,
ist alles möglich. Genau das haben am 31. Januar am Niederrhein
Staatspräsident Chirac, der französische Premierminister
und Kanzler Schröder gemeinsam mit den verantwortlichen Leitern
des diplomatischen Korps der beiden Länder getan. Denn: Europa
zu fördern, ist mehr als eine Kraft, es ist unsere Zukunftschance,
es ist die Hoffnung für unsere Kinder.
Übersetzung
Forum (MT)
|