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Das Ende der amerikanischen Sonderstellung
Die Behauptung, dass der amerikanische way of life uns rund zehn Jahre voraus ist, ist zu einer Banalität geworden. Der neue Präsident George W. Bush wäre angesichts des gerade angebrochenen Jahrhunderts gut beraten, wenn er aus der Erfahrung seines Amtsvorgängers genau den gegenteiligen Schluss ziehen würde: Die amerikanische Gesellschaft lebt den Alliierten der westlichen Welt keineswegs die Zukunft vor, sondern neigt vielmehr dazu, sich zunehmend dem europäischen Modell anzugleichen. © 2001
Alain-Gérard SLAMA - Leitartikler bei der Tageszeitung Le Figaro


Seit Tocqueville, der bereits den unaufhaltsamen Aufstieg der Vereinigten Staaten vorausgeahnt hatte, ist die Behauptung, dass der amerikanische way of life uns rund zehn Jahre voraus ist, zu einer Banalität geworden. Der neue Präsident George W. Bush wäre angesichts des gerade angebrochenen Jahrhunderts gut beraten, wenn er aus der Erfahrung seines Amtsvorgängers genau den gegenteiligen Schluss ziehen würde: Die amerikanische Gesellschaft lebt den Alliierten der westlichen Welt keineswegs die Zukunft vor, sondern neigt vielmehr dazu, sich zunehmend dem europäischen Modell anzugleichen.

Der erste Konvergenzfaktor besteht darin, dass sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Europa die Integrationsmechanismen nicht mehr greifen. Auch wenn sich die Amerikaner schon in den 60er Jahren bewusst geworden sind, dass der melting pot, auf den sie doch so stolz waren, auf Kosten der Schwarzen ging, wurde die nationale Einheit dadurch doch nie wirklich in Mitleidenschaft gezogen. Die Weite des Territoriums habe nämlich dem Historiker Daniel Boorstin zufolge faktische Toleranzbedingungen gewährleistet. Außerdem hätten die Schwarzen keine eigene Sprache gehabt und deswegen die amerikanische Umgangssprache angenommen. Abgesehen davon trennten zwei Ozeane die Ursprungsländer der eingewanderten Völker von der neuen Heimat.

Im Laufe der letzten Jahrzehnte wurden diese Argumente durch die Einwanderung der "Latinos" in Frage gestellt, die ihrer Sprache, ihrer Presse und ihrem Fernsehen verbunden geblieben sind. Erstmals musste auf dem Internet die Kampagne zu den Präsidentschaftswahlen in den beiden Sprachen Englisch und Spanisch präsentiert werden. Gravierender noch ist, dass die Einwanderer aus Lateinamerika sich in Grenznähe zu ihren Heimatländern angesiedelt haben.

Der zweite Faktor, der mit der Auflösung des melting pot zu tun hat, besteht in der damit zusammenhängenden Lockerung des sozialen Zusammenhalts, was in einer exponentiellen Zunahme der Minderheitenforderungen seinen Niederschlag gefunden hat. Das politisch Korrekte in den Vereinigten Staaten, das sich als ein Identitätsanliegen verstehen lässt, hat hier seinen Ausgangspunkt genommen. Dabei handelt es sich keinesfalls um ein nur dort beheimatetes Produkt, das nach Europa exportiert worden wäre. Dieses Phänomen der Intoleranz ist vielmehr auf dieselbe Ursache zurückzuführen wie die politische Korrektheit in Europa.

Der dritte Faktor ergibt sich aus der Suche nach einem Heilmittel für die Krise des gesellschaftlichen Zusammenhaltes, das sich an dem europäischen Modell orientiert. Zu beiden Seiten des Atlantiks wird der Personalausweis als Zeichen der Solidarität gegenüber den anderen Mitgliedern des Gemeinwesens durch den Sozialversicherungsnachweis abgelöst. Vor zwei Jahren machten die Sozialausgaben des Welfare State in den Vereinigten Staaten 15,5% des BIP aus. Rechnet man noch die obligatorischen Privatversicherungen dazu, liegen sie sogar bei 24,5% und nähern sich damit der europäischen Sozialbelastung in Höhe von 28% an. Die Clinton-Regierung hatte einen Versuch unternommen, den Kongress zu einem umfassenderen Sozialversicherungssystem zu bewegen, musste allerdings schließlich darauf verzichten. Es besteht allerdings wenig Zweifel daran, dass auch George Bush jr. während seiner Amtszeit nolens volens mit der Notwendigkeit konfrontiert werden wird, dieses Projekt fortzusetzen.

Sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Europa müssen die Politiker sich in Zukunft mit den unterschiedlichsten Gebieten auseinander setzen. Es gibt nicht länger Bereiche, die sich ihrer Zuständigkeit entzögen. Je stärker die Programme auf eine Nachfragebefriedigung abzielen, desto mehr Lobbies müssen zufrieden gestellt werden. Je mehr die öffentliche Sphäre sich in der Zivilgesellschaft auflöst, desto stärker fügt sich die Staatsmacht der sich wandelnden öffentlichen Meinung, zu deren blassem Abbild sie verkommt. Angesichts dessen kann es nicht weiter überraschen, dass es während der Wahlkämpfe der Kandidaten auf beiden Kontinenten nicht länger um alternative gesellschaftliche Grundentscheidungen geht, sondern um Menschen, deren staatsmännische Qualitäten nicht mehr von ihrer privaten Tugendhaftigkeit unterschieden werden. Wenn alles politisch wird, verliert Politik ihre Bedeutung.

Genau das hat sich auch während des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfes gezeigt. Oft wurde über die Mittelmäßigkeit der Kandidaten gespottet und über die nahezu vollständige programmatische Austauschbarkeit, wobei sich Bush pragmatischer und Al Gore energischer gegeben haben.

Unsere Kandidaten stehen den amerikanischen allerdings in nichts nach. Während diese es vorgezogen haben, lieber ihr Image zu pflegen als ihre Ideen, haben in Frankreich dieselben Gründe Lionel Jospin dazu veranlasst, sich in Gala abbilden zu lassen und Philippe Séguin für Illico zu posieren. In beiden Gesellschaften macht sich dieselbe Logik eines Wohlfahrtsstaates breit, der zunehmend auf sofortige Bedürfnisbefriedigung und immer mehr Sicherheitsgarantien aus ist.

Der letzte Konvergenzfaktor besteht in einer exponentiellen richterlichen Machtzunahme. Der Oberste Gerichtshof hätte, wie es heißt, liebend gerne darauf verzichtet, bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen ein Urteil zu fällen. Nicht anders als in Europa ist die richterliche Machtübernahme nicht die Folge eines von den Richtern ausgebrüteten Staatsstreiches. Natürlich und fast mechanisch erstreckt sie sich vielmehr auf die Bereiche, die von der politischen Macht sich selbst überlassen worden waren.

Übersetzung Forum (MT)



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