Das vereinte
Europa ist immer noch weit weniger geeint als die Vereinigten Staaten
von Amerika. Das hat natürlich damit zu tun, dass die USA sich
vor mehr als 200 Jahren zusammengeschlossen haben und dass Europa
mit seiner Einigung erst vor knapp einem halben Jahrhundert begonnen
hat. Vor allem aber haben die britischen Kolonien, die sich zusammengeschlossen
haben, um sich von Großbritannien zu emanzipieren, und die
gegen dieses Land einen langen und blutigen Krieg geführt haben,
von Anfang an ein Einigungsniveau erreicht, das einem Staat gleicht,
auch wenn der Name eine Pluralform aufweist. Die Vereinigten Staaten
von Amerika sind ein Staat, während die Mitgliedsländer
der Europäischen Union immer noch keinen Staat bilden. Die
Frage ist, ob und wann ihnen die Staatenbildung gelingen wird. Zuvor
gilt es jedoch noch die Frage zu beantworten, ob sie es überhaupt
anstreben, ob sie einen europäischen Staat, eine europäische
Macht, eine "Weltmacht Europa" überhaupt bilden wollen. Und
wenn darin nicht ihr Ziel besteht bzw. noch nicht oder nicht eindeutig:
Wird es dann trotzdem zwangsläufig dazu kommen, weil ihre Stimme
sonst international nicht mehr ins Gewicht fällt? Darin besteht
unser eigentliches Problem. In Paris und London (deutlich weniger
in Berlin und in Rom) wird immer noch eine Politik gemacht und regiert,
als ob Frankreich und Großbritannien unabhängige Staaten,
souveräne Nationen und Großmächte wären. Nur
die großen Staaten sind aber wirklich souverän. Die anderen
- kleinen oder mittleren - besitzen in dem Maße eine sporadische
Unabhängigkeit, wie das Spiel der wirklichen Großmächte
ihnen eine gewisse Autonomie und die Möglichkeit lässt,
solange nach ihren eigenen Gesetzen zu leben, wie der Handlungsspielraum
einer, mehrerer oder - da sie sich wechselseitig bedingen - schlimmstenfalls
sogar all dieser wirklichen Großmächte nicht nachhaltig
beeinträchtigt wird. Eine Initiative oder auch nur ein Projekt
einer der mittleren Mächte können einer oder mehreren
Großmächten genehm sein, und mehrere oder auch alle können
ein Interesse daran haben, dass die Handlungskapazitäten bzw.
Schädigungsmöglichkeiten einer oder mehrerer mittlerer
Mächte sich wechselseitig neutralisieren. Nehmen wir das Beispiel
Naher Osten: Frankreich und England spielen dort keine autonome
Rolle mehr, der verbliebene eventuelle oder tatsächliche Einfluss,
den jedes der beiden Länder dort bewahrt hat, kann vielleicht
noch von Bedeutung zugunsten oder zuungunsten einer der wirklichen
Großmächte sein, wie den USA, Russland, China, Indien
(wobei letztere in dem vorliegenden Fall (noch) nicht wirklich involviert
sind). Selbst in den Regionen, wo die ehemals großen Nationen
noch relativ stark präsent sind, wie z.B. Frankreich in Nordafrika,
schrumpft diese Restposition allerdings schnell und kontinuierlich.
In Nordafrika diktieren die USA zunehmend allein die Spielregeln
der Macht, und Frankreich wird sich dort nur dann behaupten können,
wenn es sich auf die amerikanische Position, mit einer leicht persönlichen
Note, einlässt.
Wenn die Europäer
an dieser Situation wirklich etwas ändern wollten (aber wollen
sie das denn auch oder würden sie es gemeinsam wollen?), müssten
sie das gegenwärtige Einigungsstadium mit nebeneinander bestehenden
Staaten, die einige ihre Handlungsfelder und manche Kapazitäten
vergemeinschaftet haben, in eine wirkliche staatliche Struktur verwandeln,
wie es in Amerika recht schnell geschehen ist. Direkt nach dem Ende
des Krieges mit England wurden die USA zu einem Staat auf der Grundlage
einer Reihe von wesentlichen Kompetenzen, was trotz Euro und beträchtlicher
Befugnisse, die die Brüsseler Institutionen besitzen, für
Europa (noch) nicht der Fall ist. Die Möglichkeit eines monistischen
politischen Lebens ist durchaus realistisch, aber diese Möglichkeit
beinhaltet noch kein föderales politisches Leben, das in Europa
noch fast gar nicht existent ist.
Wenn die Europäer
einen europäischen konföderal organisierten Staat anstreben,
wobei die Betonung auf dem Wort "Staat" liegt, dann stellt sich
die Frage, welche Reaktionen ein solches Streben jenseits des Atlantiks
auslösen würde. Das geeinte Europa, die Union Europas
war für die Vereinigten Staaten von offensichtlichem Nutzen,
solange sie den ständigen Konflikts, die Rivalität zwischen
den beiden alleinigen Supermächten gegen und mit der Sowjetunion
unterstützen mussten. Der zumindest relative Untergang dieses
ähnlich einflussreichen Gegners und Partners lässt die
Aussicht einer Europäischen Union eher als unangenehm erscheinen
denn als positiv in den Augen der Entscheidungsträger in Washington.
Wir wissen allerdings, dass der - im übrigen wiederum relative
- Machtverlust Russlands nicht von Dauer sein wird und dass unterdessen
China und Indien immer schneller in den Rang einer Weltmacht aufrücken
werden. In dem System der führenden vier Weltmächte wird
die Existenz einer fünften Großmacht als grundlegender
Partner der Vereinigten Staaten von Amerika ein neues Gewicht erhalten,
für Amerika einen neuen, positiven Einfluss haben. Diese Zukunft
ist bereits im Begriff, Gegenwart zu werden. Wenn die Europäer
es wollen, wird deswegen auch Europa, ein geeinter Staat, Europa
als Weltmacht auf keine systematisch feindselige Haltung Amerikas
stoßen. Ganz im Gegenteil.
Übersetzung
Forum (MT)
Veröffentlichungen
- "Mémoire d'un Français qui se souvient
d'avoir été Allemand" - Ed. Seuil, 1999.
- "Bismarck, l'Allemagne, et l'Europe unie - 1898 - 1998 - 2098"
- Ed. Odile Jacob, oct. 1998.
- "L'histoire de l'Allemagne des origines à nos jours" -
Ed. du Seuil, 1994.
- "Citoyens d'Europe" - Ed. Robert Laffont, 1992.
- "Le Mur et le Golfe" - Ed. de Fallois, 1991.
- "Les comptes de Dachau" - Ed. Julliard 1987, rééd. le Seuil
1993.
|