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Europa und die Vereinigten Staaten
zwischen Konkurrenz und Partnerschaft
Der französische Spezialist für die Geschichte Nordamerikas zeichnet hier ein Porträt der Vereinigten Staaten in all seinen Gegenwartsaspekten, die nicht selten auf eine eng mit Europa verbundene Geschichte zurückzuführen sind. Wie werden die Vereinigten Staaten in Frankreich und Deutschland wahrgenommen? Worin bestehen die Hauptunterschiede zwischen der amerikanischen und der französischen Gesellschaft? Warum ist das Nationenverständnis in Europa und in den Vereinigten Staaten so unterschiedlich? Können die Vereinigten Staaten noch Anspruch auf die leadership der demokratischen Nationen nach dem Ende des Kalten Krieges erheben? André Kaspi geht auf all diese grundlegenden Fragen ein. © 2001
André KASPI - Professor für Nordamerikanische Geschichte
an der Sorbonne - Direktor des Zentrums für Nordamerikanische
Geschichte - Präsident des Geschichtsausschusses im CNRS


Deutsch-Französisches Forum: Welche Hauptunterschiede bestehen in der Wahrnehmung Deutschlands und Frankreichs durch die Vereinigten Staaten?

André Kaspi: Für die Vereinigten Staaten besteht der Hauptunterschied darin, das Frankreich im Jahre 1945 zu den Siegermächten gehört, während Deutschland besiegt ist. Deswegen hat Frankreich im Bewusstsein der Amerikaner allerdings nicht unbedingt eine allzu große Bedeutung, weil das Land in ihren Augen seit der Niederlage 1940 keine Großmacht mehr darstellt. Das trat umso deutlicher zutage, als Frankreich im Februar 1945 nicht an der Konferenz von Jalta teilgenommen hatte. Dass ihm schließlich doch noch ein Ständiger Sitz in den Vereinten Nationen zuerkannt wurde, ist denn auch weniger den Amerikanern als den Briten zu verdanken. Für die Amerikaner ist Frankreich also gewissermaßen eine "halbe Siegermacht", die unermüdlich Anspruch auf eine gleichberechtigte Zugehörigkeit zu den Siegernationen erhebt. Was Deutschland betrifft, ist jedoch jedes Missverständnis ausgeschlossen: Das Land ist besiegt worden. Besiegt wurde allerdings vor allem der Nationalsozialismus. Das deutsche Volk hingegen könne zum Besseren beeinflusst und zur Demokratie geführt werden. Es müsse zwar "entnazifiziert" werden, dabei habe man allerdings den geschichtlichen Besonderheiten des Landes Rechnung zu tragen. Folglich wurde also im Jahre 1945 auf der einen Seite der Standpunkt vertreten, dass das vorrangige Ziel darin bestehe, Deutschland angesichts seiner geographischen und historischen Bedeutung wieder auf die Beine zu verhelfen. Demgegenüber sind andere der Ansicht, dass Frankreichs Einfluss unter Berücksichtigung der eben gemachten Ausführungen trotz allem bewahrt werden müsse.

Der einsetzende Kalte Krieg hat die Ausgangslage ebenfalls verändert, da es von 1947 an dringlich geboten war, Deutschland im Westbündnis zu verankern, d.h. seine Wiedereingliederung in Angriff zu nehmen. Folglich durfte man eventuellen Prostestausbrüchen Frankreichs gegenüber Deutschland keine weitere Beachtung schenken. Das ist beispielsweise auch der Grund dafür, dass die Amerikaner zusammen mit den Engländern ihre Besatzungszonen zusammengeschlossen haben, wohingegen die Franzosen bis zur Begründung der Bundesrepublik an ihrer eigenen Besatzungszone festhalten. Auf amerikanischer Seite hatte man demnach also immer das Gefühl, dass Deutschland eine Sonderstellung zuzugestehen sei und dass man deswegen den Erpressungsversuchen Frankreichs, das mehr fordert, als ihm zusteht, nicht nachgegeben dürfe.

Forum: Inwiefern hat das engere Zusammenrücken Deutschlands und Frankreichs die Beziehungen beeinflusst, die die Franzosen bzw. die Deutschen mit unserem amerikanischen Partner unterhielten?

A. Kaspi: Die partnerschaftliche Bildung der deutsch-französischen Freundschaft geht ja eigentlich auf die Präsidentschaft de Gaulles zurück und sein Treffen mit Bundeskanzler Adenauer. Für Frankreich unter de Gaulle gilt es zu verhindern, dass Deutschland voll und ganz in das atlantische Lager hinüberwechselt, und darüber hinaus soll das gemeinschaftliche Europa der damaligen Zeit seinen eigentlich europäischen Charakter bewahren. De Gaulle zufolge bildet die deutsch-französische Partnerschaft so etwas wie eine freundschaftliche Opposition gegenüber der Vormachtstellung der Vereinigten Staaten.

In den Augen der Amerikaner ist der europäische Einigungsprozess zu diesem Zeitpunkt vor dem Hintergrund des Kalten Krieges natürlich eine unumstößliche Notwendigkeit: Europa müsse im Falle einer Verbreitung des Kommunismus nach Westen zu der Bildung eines Bollwerks imstande sein. Gerade die Bestimmtheit Frankreichs aber, mit der es einen überzogenen Nationalismus zur Schau stellt (z.B. indem ein Anspruch auf den Besitz der Atombombe erhoben wird) ist in ihren Augen gefährlich. Die Amerikaner hätten es allerdings gern gesehen, wenn sich Frankreich auf der Grundlage gleichberechtigter Partnerschaft Europa wirklich angeschlossen hätte, ohne eine Sonderstellung zu beanspruchen. Im Grunde stößt man immer wieder auf dieselbe Logik: Für die Amerikaner ist Frankreich keine wirkliche Großmacht mehr, während sich Frankreich selbst, vor allem unter Charles de Gaulle, als eine Großmacht betrachtet, die eventuell auch zusammen mit Deutschland eine Art Gegengewicht bilden könne.

Forum: Frankreich hat also die deutsch-französischen Beziehungen dazu benutzt, um gegenüber den Vereinigten Staaten eine Sonderstellung einzufordern …

A. Kaspi: Die Vereinigten Staaten wollten unter Kennedy ein Bündnis bilden, das einer zu diesem Zeitpunkt vorherrschenden Vorstellung gemäß (die im übrigen auf Jean Monnet zurückgeht) auf zwei Pfeilern ruhte: auf der einen Seite ein unabhängiges, geeintes Europa, möglicherweise mit einem Präsidenten an seiner Spitze und auf der anderen Seite die Vereinigten Staaten, mit denen Europa einen gleichberechtigten Dialog hätte führen können. Frankreich wollte aber von einem solchen geeinten Europa nichts wissen, wollte nicht in einem europäischen Ganzen aufgehen, durch das die Franzosen ihre Stellung als unabhängige Nation verloren hätten. So mussten die Amerikaner damals also feststellen, dass auf Seiten Frankreichs der Wunsch bestand, an dem Binnenmarkt teilzuhaben, gleichzeitig aber die Weigerung, sich in demselben Maße daran zu beteiligen wie die anderen Nationen. Auch hier zeigt sich wieder der Anspruch Frankreichs auf eine Sonderstellung.

Forum: Worin bestehen ihres Erachtens die Hauptunterschiede zwischen der amerikanischen und der europäischen, vor allem auch deutschen und französischen Gesellschaft?

A. Kaspi: Lassen Sie mich vorweg eine allgemeine Beobachtung formulieren: Die Formen der Lebensführung und die allgemeinen Verhaltensformen in den beiden Gesellschaften bewegen sich doch stark aufeinander zu. Aber es bestehen natürlich sehr wohl Verschiedenheiten. Vor allem ist da die Bedeutung einer unablässigen, zunehmenden Einwanderungsbewegung in den Vereinigten Staaten zu nennen.

Forum: … wenn ich die Frage kurz ergänzen darf, da es sich gerade mit ihrer Beobachtung deckt: Ist die Behauptung richtig, dass, wie eine bekannte Äußerung lautet, die Amerikaner im Grunde immer noch Europäer sind, die in Amerika leben?

A. Kaspi: Natürlich waren die Amerikaner lange Zeit - und sind es größtenteils immer noch - die Söhne und Töchter Europas, entweder weil sie selbst Europa verlassen haben, um in die Vereinigten Staaten überzusiedeln, oder weil sie die Nachkommen von europäischen Immigranten sind. Heute jedoch stammen je zwei Fünftel der eine Millionen Einwanderer, die dort Jahr für Jahr ankommen, aus Lateinamerika bzw. Asien (sowohl aus Japan, Taiwan als auch Hongkong und Indien), während ein Fünftel aus Europa, Afrika und dem Mittleren Orient kommt. Daraus ergeben sich tiefgreifende Veränderungen für die Vereinigten Staaten. In fünfzig Jahren wird sich die Bevölkerungsmehrheit zweifellos aus Minderheiten zusammensetzen, Amerikanern, die aus Asien, Lateinamerika oder Afrika stammen, aber eben nicht aus Europa. Deswegen wird das Verhältnis zu Europa höchstwahrscheinlich davon nicht unberührt bleiben können. Es wird sich notgedrungen wandeln. In Anbetracht der Tatsache, dass zahlreiche, vor allem kulturelle Austauschbeziehungen bestehen und wir in einer Zeit leben, in der die Globalisierung in allen Bereichen den Ton angibt, macht sich der amerikanische Einfluss auf Europa natürlich sehr stark bemerkbar. Ich glaube, dass er, anders als viele Franzosen denken, in Frankreich mindestens genau so stark spürbar ist wie in Deutschland. Europa hat aber auch auf der anderen Seite des Atlantiks Spuren hinterlassen, bei den Essgewohnheiten, der Einstellung gegenüber Geld und - in einem geringeren Maße - Erziehung. Deswegen kann man davon ausgehen, dass die Wertvorstellungen der beiden Gesellschaften im Wesentlichen miteinander übereinstimmen.

Forum: Werden sich aus den demographischen Veränderungen Spannungen innerhalb der amerikanischen Gesellschaft ergeben?

A. Kaspi: Spannungen hat es - das sollte man nicht vergessen - schon immer gegeben. Bis vor wenigen Jahren waren besonders heftige Rassenauseinandersetzungen an der Tagesordnung, die in der Zwischenzeit nachgelassen haben. Auch zwischen den ethnischen Gemeinschaften gibt es und wird es auch in Zukunft noch Spannungen geben, insofern die Integration in die amerikanische Gesellschaft nämlich nicht individuell erfolgt, sondern über die Gemeinschaften. Das bedeutet zum Beispiel, dass sich bei den Ausschreitungen in Los Angeles im Jahre 1992 die Schwarzen nicht gegen die Weißen erhoben haben - aus dem einfachen Grunde, weil es im Zentrum von Los Angeles keine Weißen gibt. Sie waren vielmehr auf die Asiaten losgegangen. Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gemeinschaften sind spannungsgeladen. Die Frage ist allerdings nur, ob diese Spannungen letztlich abebben werden. Auch wenn ich mir dessen nicht ganz sicher bin, will mir scheinen, dass die Gesellschaft der Vereinigten Staaten das Potenzial zur Befriedung dieser Spannungen in sich birgt, weil sie bisher immer noch den richtigen Weg zu ihrer Überwindung gefunden hat. Jedenfalls ist sie niemals aus den Fugen geraten.

Natürlich ist es aber vorstellbar, dass sich infolge der Veränderungsprozesse, denen die Bevölkerung unterliegt, diese Spannungen deutlich verschärfen könnten. Allerdings ist, wie Sie wissen, niemand dazu gezwungen, sich in den Vereinigten Staaten niederzulassen: Die Menschen kommen aus eigenem Antrieb, und wenn es keine Einwanderungsbegrenzungen gäbe, die mehr oder weniger befolgt würden, gäbe es noch mehr Interessenten, die um Einlass bitten würden. Aus Lateinamerika und Asien käme dann nämlich ein riesiger Zustrom auf das Land zu. Wenn man den Bewohnern der Volksrepublik China die freie Wahl ließe, würden, denke ich, viele ihre Koffer packen. Das zeigt, dass es sich um eine Nation handelt, die sich aus (Frei)Willigen zusammensetzt, und dieser Aspekt gibt Anlass zu Optimismus, denn diese Menschen zusammen genommen wollen hier leben und Einlass in das, was sie als ein Schlaraffenland betrachten, erhalten. Folglich dürften sie ihre Schwierigkeiten überwinden können, anstatt ihnen zum Opfer zu fallen.

Forum: Die Definition des Nationenbegriffs ist in den Vereinigten Staaten und in Europa, speziell in Frankreich, nicht dieselbe. Sie haben die amerikanische Gesellschaft als eine Art Mosaik aus Gemeinschaften beschrieben. In Frankreich ist das ganz und gar nicht unsere Vorstellung von Nation. Worin sind Ihrer Meinung nach die hauptsächlichen Unterschiede dieser beiden Konzeptionen, dieser beiden Beziehungen dem Staat gegenüber zu sehen?

A. Kaspi: Genau auf diesem Gebiet lässt sich - Fortschritt wäre das falsche Wort … - eine fortschreitende Annäherung verzeichnen. Bis vor wenigen Jahren war die französische Gesellschaft nach einem einzigen, republikanischen Modell organisiert. War man ausländischer Herkunft, verfolgte man das Ziel, sich zu integrieren, d.h. alle Werte der französischen Gesellschaft zu übernehmen und seine Herkunftsgesellschaft zu vergessen. Das gilt heute nicht mehr - ob zu Recht oder zu Unrecht will ich gar nicht beurteilen -, weil eine multikulturelle Gesellschaft auf größere Akzeptanz stößt. Auch wenn die Gesellschaft noch nicht vollständig multikulturell ist, ist die Tendenz doch eindeutig. So ähnelt ihre Gesamtkonzeption also zunehmend einer "typisch amerikanischen" Gesellschaftskonzeption. Das bedeutet demnach also, dass die französische Gesellschaft nach und nach einen Teil seiner Charakteristika ablegt und dass sie auf ganz eigene Art amerikanischer wird.

Forum: Demnach wäre Frankreich also ein Land, in dem die Amerikanisierung und die amerikanische Allmacht angeprangert werden, das sich aber nichtsdestotrotz dem amerikanischen Modell annähert …

A. Kaspi: So ist es. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Vereinigten Staaten als Punchingball dienen. Wir glauben, dass die wirkliche Gefahr von Amerika ausgeht: das Einheitsessen, die wissenschaftlichen Fehlentwicklungen im Bereich der genetisch veränderten Organismen und des mit Hormonen versetzten Rindfleisches oder auch die Bedrohung unserer Sprache und unseres Gesellschaftsmodells. Wenn man dann aber die Lebensweise der Franzosen näher betrachtet, dann stellt man fest, dass sie selbst dieser Amerikanisierung Vorschub leisten und sie beschleunigen. Diese Entwicklung wird von den Vereinigten Staaten nämlich gar nicht gefördert, weil sie es gar nicht auf eine "Amerikanisierung" der französischen Gesellschaft anlegen. Was sie eventuell anstreben - jedenfalls die Industrie-, Handels- und Bankunternehmen -, sind Marktanteile und Auslandsinvestitionen egal in welchem Land, ob nun in Deutschland, Frankreich, Indien oder Korea.

Forum: Welches sind die Grundcharakteristika des amerikanischen politischen Systems, die verborgenen Besonderheiten dieser Nation entsprechen?

A. Kaspi: Die Vereinigten Staaten sind von den einzelnen Staaten ins Leben gerufen worden. Die Machtübertragung an die Staaten ging gerade nicht von dem Zentralstaat aus, sondern umgekehrt von den Staaten, die während des Einigungsprozesses auf einige ihrer Kompetenzen zugunsten der Zentralregierung verzichtet haben. Die Bezeichnung selbst "Vereinigte Staaten" macht deutlich, dass dieses Land eigentlich namenlos ist!

Der Entstehungsprozess der Vereinigten Staaten folgt also der genau gegenteiligen Entwicklung des französischen Dezentralisierungssystems. Das amerikanische System gründet auf einem Bundessystem und insbesondere auf der Praxis demokratischer Verfahren: Wahlen, Gewaltenkontrolle und -teilung, individuelle und öffentliche Freiheitsrechte. In dieser Hinsicht verkörpern die Vereinigten Staaten die Demokratie mit all ihren Vorzügen und all ihren Fehlentwicklungen, von denen mir gegenwärtig zwei besonders folgenschwer erscheinen: zum einen der Einfluss der Medien, die eine grundlegende Rolle spielen - sie leisten natürlich einen Informationsbeitrag, darüber hinaus entstellen und desinformieren sie aber auch, selbst wenn auf sie nicht verzichtet werden kann - und zum anderen die Bedeutung des Geldes. So widersprüchlich es nämlich auch klingen mag, je demokratischer ein System wird, desto wichtiger wird die Bedeutung des Geldes. In Kalifornien gibt es beispielsweise ein Verfahren, das es einer bestimmten Anzahl von Bürgern ermöglicht, ein Referendum zu fordern. Man muss mehrere Tausend Unterschriften sammeln, damit ein Referendum organisiert wird. Wenn dem Antrag auf Volksbefragung stattgegeben wird, muss sie der Staat Kalifornien umsetzen. Zur Sammlung dieser Unterschriften braucht man aufgrund einer aufwändigen und effizienten Werbekampagne aber viel Geld. Im Grunde hat man es hier also mit einem demokratischen Verfahren zu tun, das durch die Einmischung des Geldes zweckentfremdet wird. Ähnliches gilt für die Wahlkampagnen der letzten Zeit in den Vereinigten Staaten, bei denen eine ganze Reihe von Ansätzen dazu dienen sollten, die Demokratie zu fördern, indem man die Wahlkampfperioden verlängerte und indem alle Formen der Bürgerbeteiligung bei der Kandidatenbestimmung gestärkt wurden. Faktisch wurde dadurch der Einfluss des Geldes nur noch erhöht. Folglich lässt sich daraus der Schluss ziehen, dass die Hauptmerkmale des amerikanischen Systems im allgemeinen lobenswert sind, dass man sie allerdings auch aufmerksam verfolgen sollte.

Forum: Können die Vereinigten Staaten immer noch der Vorreiter der Freiheit und der Demokratie sein, wie sie es während des Kalten Krieges waren? Welchen Bedeutung hat Ihrer Meinung nach der Ausdruck "amerikanischer Traum" heute noch?

A. Kaspi: Der amerikanische Traum beinhaltet vor allem die Vorstellung, dass man in einem Land lebt, in dem Milch und Honig fließen und in dem alles möglich ist: Sie waren arm, sparen, haben eine Arbeit, besuchen die Schule, später dann die Universität, erreichen so einen größeren Wohlstand und vielleicht werden Sie eines Tages Millionär. Der amerikanische Traum besteht darin, dass alle Männer der Onkel, alle Frauen die Tante aus Amerika werden. Der amerikanische Traum besteht darin, reich zu werden in einem Umfeld der Freiheit und des Unternehmergeistes, wie man es in seinem Heimatland nicht gekannt hatte.

Vielleicht verkörpern die Vereinigten Staaten nicht überall den Traum von Freiheit und der Verteidigung der demokratischen Werte, die sie während des Kalten Krieges symbolisiert haben. Schließlich betrachtete in diesem Zeitraum fast die Hälfte der Weltbevölkerung das amerikanische Volk als einen Feind. Das Bild verkörperten sie also nur für die andere Hälfte der Menschheit.

Nach dem Ende des Kalten Krieges hat der Traum auch einen Teil derjenigen in seinen Bann geschlagen, die vorher nicht daran glaubten. Zur Stunde träumt man in Mitteleuropa, in Russland und sogar in China von all dem, was die Vereinigten Staaten erreicht haben. Der amerikanische Traum hat sich durchgesetzt. Deswegen verkörpern größtenteils die Vereinigten Staaten diesen Traum und nicht andere Nationen, sonst würde man ja gar nicht den Ausdruck "amerikanischer Traum" gebrauchen.

Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass die Vereinigten Staaten der Verteidigung ihrer eigenen Interessen durchaus Vorrang einräumen. Wenn diese mit dem Eintritt für die Freiheitsrechte übereinstimmen, bedeutet das, dass die Außenpolitik der Vereinigten Staaten mit dem Wunsch der meisten Männer und Frauen weltweit im Einklang ist. Wenn die nationalen Interessen jedoch ausschließlich die Vereinigten Staaten betreffen, haben viele Männer und Frauen naturgemäß den Eindruck, wie eine vernachlässigbare Minderheit behandelt zu werden, und bringen ihren Protest zum Ausdruck. Angesichts des Phänomens der wirtschaftlichen Globalisierung zum Beispiel hat man vielerorts das Gefühl, dass die amerikanischen Unternehmen dominieren, dass die amerikanische Währung den Ton angibt, dass der Dow-Jones-Index über den Wert der höchst notierten französischen Aktien entscheidet und dass wir alles in allem den Regeln und dem Auf und Ab der amerikanischen Wirtschaft unterworfen sind. Ich finde, dass man dabei nicht vergessen sollte, dass auch von Europa Globalisierungsphänomene ausgehen. Auch deutsche und französische Firmen schlucken nämlich amerikanische Gesellschaften, wie z.B. Daimler oder Vivendi. Es muss auch betont werden, dass ein Teil der Bevölkerung in den Vereinigten Staaten gegen die Globalisierung protestiert, weil dadurch ihrer Ansicht nach Arbeitsplätze ins Ausland verlegt werden und damit die ausländische Konkurrenz verschärft wird. Die Situation ist also nicht so einfach, wie man vielleicht denken könnte. Trotzdem zeigt sich dadurch, dass die Vereinigten Staaten nicht immer die Freiheit der Welt verkörpern können.

Somit kann es also - meistens verhält es sich tatsächlich so - zu einer Überlappung von amerikanischen Interessen und der Verteidigung der Freiheit kommen. Es ist allerdings ebenfalls möglich, dass diese Konvergenz fehlt In diesem Zusammenhang lässt sich das Beispiel der Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten mit vielen der lateinamerikanischen Länder anführen, die lange Zeit und auch heute noch auf der Realpolitik basieren, nicht aber auf der Verteidigung der Freiheitsrechte.

Forum: Besteht Ihrer Meinung nach Aussicht darauf, dass der europäische Einigungsprozess letztlich zu einer Art "Vereinigte Staaten von Europa" im Sinne der Vereinigten Staaten von Amerika führen wird?

A. Kaspi: Ich habe eine Zeit lang im Zusammenhang mit meiner Doktorarbeit in den Arbeitszimmern Jean Monnets gearbeitet und hatte deswegen auch Zugang zu seinen Archiven. Ich bewegte mich fast ausschließlich in dem Umfeld, in dem man vor allem über die Vereinigten Staaten von Europa sprach. Es war ja im übrigen auch eine der Hauptideen, für die Jean Monnet bis zu seinem Tod im Jahre 1979 eingetreten war. Ich für meinen Teil war anfangs der Überzeugung, man müsse sich auf eine Stärkung Europas zubewegen. Heute bin ich es weniger, wenn ich sehe, wie sehr Europa sich oftmals mit den Details der jeweiligen Alltagssituation in den Ländern beschäftigt und allzu wenig mit den umfassenden Interessen aller Nationen zusammengenommen.

Was mich ebenfalls beunruhigt, ist der Gedanke an die Folgen einer künftigen Erweiterung Europas. Von dem Augenblick an, wo man sich mit der Aussicht auf ein auf 27, 30 oder gar noch mehr Mitgliedstaaten erweitertes Europa auseinander setzen muss, zweifle ich an der Zukunftsfähigkeit der Idee der Vereinigten Staaten von Europa. Das sowohl politisch als auch wirtschaftlich und gesellschaftlich aus ungleichen Ländern verfasste Europa hat gemeinsame Projekte nicht wirklich definiert. Das ist in meinen Augen der grundlegende Schwachpunkt, an dem man wird arbeiten müssen, bevor die Erweiterung vollzogen wird oder bevor man sich überhaupt mit europarelevanten Themen befasst. Eine der Erweiterung vorangehende Vertiefung erscheint mir zumindest Vorrang zu haben. Wenn man nämlich nach einer Stärkung Europas strebt, ohne sich um eine notwendige Vertiefung zu bemühen, ist es sonst höchst wahrscheinlich, dass unter dem Strich eine Schwächung Europas dabei herauskommt.

Übersetzung Forum (MT)



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