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Die Zukunft Europas und seiner Beziehungen zu den Vereinigten Staaten
Die Europäische Union nährt keinerlei Hoffnungen auf eine Rolle, wie sie die Vereinigten Staaten als Supermacht innehaben. Sie will vielmehr innerhalb eines neuen Gleichgewichts ein Mitspracherecht haben, bei dem Europa sich zum Nutzen aller zu Wort melden könnte. Andersartigkeit ist nicht gleichbedeutend mit Feindseligkeit. Manchmal haben unsere amerikanischen Freunde Schwierigkeiten, das zu verstehen. Obgleich ich die Beziehungen zu Amerika auf keinem Gebiet möchte abreißen lassen, bin ich doch auch weiterhin der Förderung einer europäischen Identität stark verpflichtet. Am Anfang war die Tat, heißt es in Goethes Faust. Damit es in Zukunft mehr Europäer gibt, bedarf es gemeinsamer europäischer Taten. © 2001
Jean-François DENIAU - Mitglied der Académie française - Ehemaliger französischen Minister


Deutsch-französisches Forum: Welche Rolle und Verantwortung kann die Europäische Union in der Welt gegenüber den Vereinigten Staaten beanspruchen? Denken Sie nicht, dass Europa bei seiner Identitätssuche allzu oft wie ein zweites Amerika auftritt, auch dann, wenn es einen anderen Standpunkt vertritt als die Vereinigten Staaten?

Jean-François Deniau: Der alte Ausspruch Churchills - der im übrigen England von dem europäischen Einigungsprozess ausnahm - war "eine Art Vereinigte Staaten von Europa". Der Ausdruck "eine Art" ist hier von grundlegender Bedeutung.

Es ist zuallererst zu bemerken, dass die Fortschritte auf dem Weg zu einer europäischen Einigung und deren Modalitäten nicht auf der Grundlage einer föderativen Entscheidung nach amerikanischem Muster vollzogen werden, sondern mittels eines viel langsameren und komplexeren Prozesses nach Einzelfällen, wie er für das von den sechs Gründungsstaaten, darunter Frankreich und Deutschland, gewünschte "Monnet-System" kennzeichnend ist.

Außerdem nährt die Europäische Union keinerlei Hoffnungen auf eine Rolle, wie sie die Vereinigten Staaten als Supermacht innehaben, und will vielmehr innerhalb eines neuen Gleichgewichts ein Mitspracherecht haben, bei dem Europa sich zum Nutzen aller zu Wort melden könnte. Andersartigkeit ist nicht gleichbedeutend mit Feindseligkeit. Manchmal haben unsere amerikanischen Freunde Schwierigkeiten, das zu verstehen. Obgleich ich die Beziehungen zu Amerika auf keinem Gebiet möchte abreißen lassen, bin ich doch auch weiterhin der Förderung einer europäischen Identität stark verpflichtet. Währung, Verteidigung, Diplomatie, Sozialpolitik usf. sind nichts weiter als Instrumente und Mittel zu einem engeren Zusammenrücken, einer eigenständigen Existenz. Am Anfang war die Tat, heißt es in Goethes Faust. Damit es in Zukunft mehr Europäer gibt, bedarf es gemeinsamer europäischer Taten.

Das Ziel, das man trotz aller Meinungsverschiedenheiten und Unwägbarkeiten niemals aus dem Blick verlieren sollte, ist der Friede, der Friede zwischen unseren Völkern, vor allem zwischen Deutschland und Frankreich. In einer Zeitspanne von weniger als hundert Jahren, war es zu drei Kriegen gekommen, darunter zwei Weltkriegen: das reicht! Die Antwort, die einzige Antwort darauf lautet: Europa.

Heute, nach einer Friedenszeit, die seit 50 Jahren anhält, mögen die Jüngeren dieses Ziel vielleicht aus dem Blick verlieren und die Notwendigkeit zu einem geeinten Europa weniger stark empfinden. Man sollte allerdings bedenken, dass, wer heute in einem unserer Länder die Verantwortung dafür übernähme, die europäische Einigung zu zerstören, damit gleichfalls den Frieden zerstört. Unsere Völker würden ihm dies niemals verzeihen.

Forum: In einem ihrer Bücher aus dem Jahre 1977 schreiben Sie, dass die europäische Identität einen "Kampf für die Zukunft" bedeute. Sind Sie der Meinung, dass diese Bemerkung auch heute noch gilt? Ist es wirklich zu konkreten, erkennbaren Fortschritten gekommen? Und denken Sie nicht, dass die Staaten Mitteleuropas, die zu dem sogenannten "zweiten Europa" gehörten, diese Identität mittragen?

J.-F. Deniau: Das Ziel bestand darin, zwischen den Mitgliedstaaten hinreichend feste Beziehungen zu knüpfen, damit die Einigung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Ein Innehalten wäre gefährlich, eine stete Bewegung dagegen unerlässlich. Man muss stets ein Ziel vor Augen haben und auch der Globalisierung immer einen Schritt voraus sein. Damit Europa sich weiterentwickelt, brauchen wir ein Ziel und einen Terminplan mit präzisen, zeitlich festgesetzten Vorgaben.

Als ich 1957 mit der Verfassung der Präambel zur Begründung der Europäischen Gemeinschaft betraut worden war, hatte ich geschrieben: "mit der Aufforderung an die anderen Völker, die sich zu dem gleichen Ideal bekennen, sich diesen Bestrebungen anzuschließen". Das ist meines Wissens das einzige internationale Vertragswerk, in dem das Wort "Ideal" vorkommt. Ohne ein Ziel, ohne ein Ideal gibt es aber in meinen Augen keine wirkliche europäische Einigung, sondern nur eine Art nützliches Behelfsinstrument. Nach dem Frieden kann das Ideal nur in einer spezifischen Zivilisation bestehen, in der Demokratie und Freiheit ihren Platz haben.

Deswegen habe ich diesen Passus der Präambel 1957 im Gedanken an Osteuropa verfasst. Die Herausforderung besteht heute nicht mehr in Kriegen zwischen unseren Völkern, sondern vielmehr in einer angemessenen Haltung gegenüber dem immensen Freiheits- und Sicherheitsbedarf unserer osteuropäischen Nachbarstaaten, die so viele Hoffnungen in uns setzen. Ich sehe in dieser Öffnung und Integration weniger eine Zunahme an Risiken und Problemen als unsere Pflicht und unsere Chance. Europa kann nicht ohne eine Herausforderung existieren. Außerdem mögen wir den Preis der Freiheit aus den Augen verlieren, die Staaten Osteuropas tun dies aber bestimmt nicht.

Forum: Sie waren in verantwortlicher Position im europäischen Rahmen tätig. Sind Sie der Ansicht, dass eine europäische Verfassung, eine Charta oder eine Erklärung auf der Basis der grundlegenden europäischen Vertragstexte und nationalen Verfassungen, die sich nicht selten überschneiden, dazu beitragen könnten, dass sich die europäischen Bürger stärker des europäischen Einigungsprozesses bewusst werden? Wäre das nicht ein konkreter Beweis für ein tatsächlich bestehendes Europa? Und auf welchen grundsätzlichen Werten könnte Ihrer Meinung nach eine solche Verfassung beruhen?

J.-F. Deniau: Eine Verfassung in der jetzigen Lage würde mich ein wenig beunruhigen. Wir befinden uns nicht in einer Phase, in der der europäische Geist besonders kräftig wehen würde, wie wir vor kurzem in Nizza haben sehen können, und ich möchte eine augenblickliche Situation nicht dauerhaft festschreiben, die günstigere Entwicklungsperspektiven blockieren würde. Die gesamte europäische Einigung, so wie ich sie seit mehr als 50 Jahren verfolge, ist ja ein Bewegungsprozess. Der erste Kommissionspräsident Hallstein pflegte zu sagen, dass unsere Verträge nicht föderalistisch, sondern föderalisierend seien. Wichtig ist es, die Bewegung nicht abreißen zu lassen.

Dagegen glaube ich an den Nutzen eines allgemeinen Textes, in dem festgehalten würde, dass unser Ziel nicht handelspolitischer oder wirtschaftlicher Natur sei, sondern in einer Zivilisation bestehe. Das ist auch der Grund dafür, dass ich seit so vielen Jahren der Verteidigungspolitik und einem gemeinsamen außen- und friedenspolitischen und auch humanitären Handeln eine derart große Bedeutung beimesse. Eine Zivilisation, die nicht die notwendigen verteidigungspolitischen Maßnahmen trifft, ist erledigt, noch bevor sie überhaupt angegriffen wurde. Es lebe das Leben.

Forum: Befürworten Sie immer noch die Vorstellung einer "variablen Geometrie" im Rahmen einer europäischen Institutionenreform?

J.-F. Deniau: Natürlich. Die einzige Antwort auf die Erweiterung ist das, was ich vor 25 Jahren "variable Geometrie" getauft habe und was man heute mit Ausdrücken wie "verstärkte Zusammenarbeit" oder "Avantgarde" bezeichnet. Im Grunde stammt die treffendste Formel von Paul Henri Spaak: "die Staaten, die zügiger und weiter vorangehen wollen". Die Gemeinschaftsinstitutionen waren mit der allergrößten Sorgfalt zwischen sechs, einander sehr nahestehenden Mitgliedstaaten berechnet worden. Der Beitritt Großbritanniens, Irlands und Dänemarks musste zwangsläufig weitere Beitritte nach sich ziehen. Je mehr Mitgliedstaaten es in Europa gibt, desto schwieriger ist es für einen Staat, sich dem zu entziehen. Deswegen ist die Zahl der Beitrittsstaaten kontinuierlich gestiegen, was eine natürliche Bewegung darstellt: von sechs auf neun, von neun auf zwölf, von zwölf auf fünfzehn und bald von fünfzehn auf zwanzig oder sogar siebenundzwanzig …

Keiner der ursprünglich vorgesehenen Mechanismen kann dem Problem sowohl der Heterogenität als auch der Schwerfälligkeit eines solchen vielgestaltigen und staatenreichen Europas völlig gerecht werden. Wäre die qualifizierte Mehrheit eine Lösung? Sicher. Veto- und Blockaderisiken müssen unbedingt verhindert werden. Jede Stimmgewichtung ist allerdings bestreitbar, und vor allem besteht die Gefahr, dass keine kohärente und stabile zwischenstaatliche Mehrheit entsteht. Damit begibt man sich auf unsicheres Gelände.

Die Rolle der Europäischen Kommission ist wichtiger denn je. Man sollte allerdings nicht vergessen, dass sie in einem Vorschlagsrecht und einem Ausgewogenheitsprinzip besteht, vor allem zugunsten der "kleineren" Staaten, denen einen Kommissarsitz vorzuenthalten, meines Erachtens ein Fehler wäre. Es wäre da schon besser, die Kommission zweistufig zu gestalten, mit einem einzigen Mitglied pro Land und Vizepräsidentschaften für die großen Länder und die natürlichen Ländergruppen bestehend aus kleineren Staaten. Während meiner Zeit als Kommissionsmitglied hatte jedes einzelne der Beneluxländer einen Kommissar, aber es gab nur einen Vizepräsidenten für alle drei. Außerdem gibt es in allen unseren Regierungen Minister und Staatssekretäre, die sich insgesamt wie in Frankreich auf etwa 30 Personen belaufen können.

Aber auch wenn all diese Anpassungsmaßnahmen auf die Bewahrung des Gleichgewichts abzielen, geht doch von ihnen kein Anstoß für eine Weiterentwicklung aus, für die - wie schon gesagt - unerlässliche Fortentwicklung der europäischen Integration. Deswegen gibt es keine andere Lösung als die Regel, auf die ich seit dem Beitritt Englands immer wieder hinweise und die eine unausweichliche Konsequenz der aufeinander folgenden Erweiterungen ist: ein je fallspezifisches Vorgehen zur Weiterentwicklung.

"Wer will, darf. Ohne dass diese Staaten ihre Sichtweise denjenigen aufzwingen würden, die sich daran nicht beteiligen wollen. Aber auch ohne dass diese den anderen Steine in den Weg legen könnten." Das ist doch nicht schwer zu verstehen, oder?

Airbus, Ariane, der Euro sind durchweg Formen der Weiterentwicklung, die auf eine variable Geometrie zurückgehen. Das gilt sogar für die Sechsergemeinschaft. Die sechs Gründungsmitglieder Europas, die "schneller und weiter vorangehen wollten", sind dafür das erste Beispiel. Die anderen sind später dazu gekommen.

Forum: Sollte der Union Ihrer Ansicht nach nicht auch politisch Konsistenz verliehen werden, sowohl damit ihre Zielvorstellungen den künftigen Mitgliedstaaten klarer werden als auch um gegenüber den europäischen Bürgern an Konkretheit zu gewinnen und sich ihnen anzunähern?

J.-F. Deniau: Ich habe konkrete Fälle genannt: Airbus, Ariane. Europa fehlt es an konkreten Anwendungen. Was der Öffentlichkeit im Gedächtnis haften bleibt, sind die Haushaltsstreitigkeiten und die Rinderseuche. In den Bereichen, die die öffentliche Meinung vorrangig interessieren und in denen Europa unbedingt einen klaren und verständlichen Beitrag zu leisten hat, muss zu einer Initiative angeregt werden. Im Sport zu europäischen Mannschaften (das gibt es ja fast schon). Vor allem aber im Kampf gegen das Doping. Im Gesundheitsbereich zu einer gemeinsamen Krebsforschung etc.

Und auch für die Demokratie, in Europa und anderswo! Die europäischen Unterstützungsmaßnahmen werden derzeit schlecht überwacht und sind ziemlich unverständlich und sehr theoretisch. Es ist uns zu keinem Zeitpunkt gelungen, einen sinnvollen Zusammenhang zwischen Wirtschaftsbeihilfen und demokratischem Fortschritt herzustellen. Unsere Haltung gegenüber Osteuropa ist ein ziemlich trauriger Misserfolg. Wenn Rumänien wieder in kommunistische Zeiten verfällt, Albanien im Chaos versinkt, die Mafia überall an Boden gewinnt, dann ist das gerade eine Herausforderung, unsere Herausforderung!

Wir waren von Anfang an zusammen. Es liegt jetzt an uns Deutschen und Franzosen, gemeinsam Überlegungen für ein lebendiges Bild von Europa anzustellen und demgemäß zu handeln. Gemeinsam müssen wir eine positive Haltung gegenüber den Problemen im Zuge der Osterweiterung finden. Europa war für uns gleichbedeutend mit Hoffnung. Jetzt müssen wir anderen Hoffnung bringen. Es geht hier nicht um irgendwelche politische Parteientscheidungen. Es gibt schlicht die, die wollen, und die, die nicht wollen.

Übersetzung Forum (MT)


Veröffentlichungen

- "L'Ile Madame" - Hachette littératures, 2001.
- "Tadjoura" - Hachette littératures, 1999.
- "Le bureau des secrets perdus" - Odile Jacob, 1998
- "L'Atlantique est mon désert" - Gallimard, 1998
- "Mémoires de sept vies" - Plon, T.1 1994, T. 1997.
- "Ce que je crois" - Le livre de poche, 1994.
- "La mer est ronde" - Gallimard, 1992.
- "La désirade" - Plon, 1992.



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