Deutsch-französisches
Forum: Welche Rolle und Verantwortung kann die Europäische
Union in der Welt gegenüber den Vereinigten Staaten beanspruchen?
Denken Sie nicht, dass Europa bei seiner Identitätssuche allzu
oft wie ein zweites Amerika auftritt, auch dann, wenn es einen anderen
Standpunkt vertritt als die Vereinigten Staaten?
Jean-François
Deniau: Der alte Ausspruch Churchills - der im übrigen England
von dem europäischen Einigungsprozess ausnahm - war "eine Art
Vereinigte Staaten von Europa". Der Ausdruck "eine Art" ist hier
von grundlegender Bedeutung.
Es ist zuallererst
zu bemerken, dass die Fortschritte auf dem Weg zu einer europäischen
Einigung und deren Modalitäten nicht auf der Grundlage einer
föderativen Entscheidung nach amerikanischem Muster vollzogen
werden, sondern mittels eines viel langsameren und komplexeren Prozesses
nach Einzelfällen, wie er für das von den sechs Gründungsstaaten,
darunter Frankreich und Deutschland, gewünschte "Monnet-System"
kennzeichnend ist.
Außerdem
nährt die Europäische Union keinerlei Hoffnungen auf eine
Rolle, wie sie die Vereinigten Staaten als Supermacht innehaben,
und will vielmehr innerhalb eines neuen Gleichgewichts ein Mitspracherecht
haben, bei dem Europa sich zum Nutzen aller zu Wort melden könnte.
Andersartigkeit ist nicht gleichbedeutend mit Feindseligkeit. Manchmal
haben unsere amerikanischen Freunde Schwierigkeiten, das zu verstehen.
Obgleich ich die Beziehungen zu Amerika auf keinem Gebiet möchte
abreißen lassen, bin ich doch auch weiterhin der Förderung
einer europäischen Identität stark verpflichtet. Währung,
Verteidigung, Diplomatie, Sozialpolitik usf. sind nichts weiter
als Instrumente und Mittel zu einem engeren Zusammenrücken,
einer eigenständigen Existenz. Am Anfang war die Tat, heißt
es in Goethes Faust. Damit es in Zukunft mehr Europäer gibt,
bedarf es gemeinsamer europäischer Taten.
Das Ziel, das
man trotz aller Meinungsverschiedenheiten und Unwägbarkeiten
niemals aus dem Blick verlieren sollte, ist der Friede, der Friede
zwischen unseren Völkern, vor allem zwischen Deutschland und
Frankreich. In einer Zeitspanne von weniger als hundert Jahren,
war es zu drei Kriegen gekommen, darunter zwei Weltkriegen: das
reicht! Die Antwort, die einzige Antwort darauf lautet: Europa.
Heute, nach
einer Friedenszeit, die seit 50 Jahren anhält, mögen die
Jüngeren dieses Ziel vielleicht aus dem Blick verlieren und
die Notwendigkeit zu einem geeinten Europa weniger stark empfinden.
Man sollte allerdings bedenken, dass, wer heute in einem unserer
Länder die Verantwortung dafür übernähme, die
europäische Einigung zu zerstören, damit gleichfalls den
Frieden zerstört. Unsere Völker würden ihm dies niemals
verzeihen.
Forum: In
einem ihrer Bücher aus dem Jahre 1977 schreiben Sie, dass die
europäische Identität einen "Kampf für die Zukunft"
bedeute. Sind Sie der Meinung, dass diese Bemerkung auch heute noch
gilt? Ist es wirklich zu konkreten, erkennbaren Fortschritten gekommen?
Und denken Sie nicht, dass die Staaten Mitteleuropas, die zu dem
sogenannten "zweiten Europa" gehörten, diese Identität
mittragen?
J.-F. Deniau:
Das Ziel bestand darin, zwischen den Mitgliedstaaten hinreichend
feste Beziehungen zu knüpfen, damit die Einigung nicht mehr
rückgängig gemacht werden kann. Ein Innehalten wäre
gefährlich, eine stete Bewegung dagegen unerlässlich.
Man muss stets ein Ziel vor Augen haben und auch der Globalisierung
immer einen Schritt voraus sein. Damit Europa sich weiterentwickelt,
brauchen wir ein Ziel und einen Terminplan mit präzisen, zeitlich
festgesetzten Vorgaben.
Als ich 1957
mit der Verfassung der Präambel zur Begründung der Europäischen
Gemeinschaft betraut worden war, hatte ich geschrieben: "mit der
Aufforderung an die anderen Völker, die sich zu dem gleichen
Ideal bekennen, sich diesen Bestrebungen anzuschließen". Das
ist meines Wissens das einzige internationale Vertragswerk, in dem
das Wort "Ideal" vorkommt. Ohne ein Ziel, ohne ein Ideal gibt es
aber in meinen Augen keine wirkliche europäische Einigung,
sondern nur eine Art nützliches Behelfsinstrument. Nach dem
Frieden kann das Ideal nur in einer spezifischen Zivilisation bestehen,
in der Demokratie und Freiheit ihren Platz haben.
Deswegen habe
ich diesen Passus der Präambel 1957 im Gedanken an Osteuropa
verfasst. Die Herausforderung besteht heute nicht mehr in Kriegen
zwischen unseren Völkern, sondern vielmehr in einer angemessenen
Haltung gegenüber dem immensen Freiheits- und Sicherheitsbedarf
unserer osteuropäischen Nachbarstaaten, die so viele Hoffnungen
in uns setzen. Ich sehe in dieser Öffnung und Integration weniger
eine Zunahme an Risiken und Problemen als unsere Pflicht und unsere
Chance. Europa kann nicht ohne eine Herausforderung existieren.
Außerdem mögen wir den Preis der Freiheit aus den Augen
verlieren, die Staaten Osteuropas tun dies aber bestimmt nicht.
Forum: Sie
waren in verantwortlicher Position im europäischen Rahmen tätig.
Sind Sie der Ansicht, dass eine europäische Verfassung, eine
Charta oder eine Erklärung auf der Basis der grundlegenden
europäischen Vertragstexte und nationalen Verfassungen, die
sich nicht selten überschneiden, dazu beitragen könnten,
dass sich die europäischen Bürger stärker des europäischen
Einigungsprozesses bewusst werden? Wäre das nicht ein konkreter
Beweis für ein tatsächlich bestehendes Europa? Und auf
welchen grundsätzlichen Werten könnte Ihrer Meinung nach
eine solche Verfassung beruhen?
J.-F. Deniau:
Eine Verfassung in der jetzigen Lage würde mich ein wenig beunruhigen.
Wir befinden uns nicht in einer Phase, in der der europäische
Geist besonders kräftig wehen würde, wie wir vor kurzem
in Nizza haben sehen können, und ich möchte eine augenblickliche
Situation nicht dauerhaft festschreiben, die günstigere Entwicklungsperspektiven
blockieren würde. Die gesamte europäische Einigung, so
wie ich sie seit mehr als 50 Jahren verfolge, ist ja ein Bewegungsprozess.
Der erste Kommissionspräsident Hallstein pflegte zu sagen,
dass unsere Verträge nicht föderalistisch, sondern föderalisierend
seien. Wichtig ist es, die Bewegung nicht abreißen zu lassen.
Dagegen glaube
ich an den Nutzen eines allgemeinen Textes, in dem festgehalten
würde, dass unser Ziel nicht handelspolitischer oder wirtschaftlicher
Natur sei, sondern in einer Zivilisation bestehe. Das ist auch der
Grund dafür, dass ich seit so vielen Jahren der Verteidigungspolitik
und einem gemeinsamen außen- und friedenspolitischen und auch
humanitären Handeln eine derart große Bedeutung beimesse.
Eine Zivilisation, die nicht die notwendigen verteidigungspolitischen
Maßnahmen trifft, ist erledigt, noch bevor sie überhaupt
angegriffen wurde. Es lebe das Leben.
Forum: Befürworten
Sie immer noch die Vorstellung einer "variablen Geometrie" im Rahmen
einer europäischen Institutionenreform?
J.-F. Deniau:
Natürlich. Die einzige Antwort auf die Erweiterung ist das,
was ich vor 25 Jahren "variable Geometrie" getauft habe und was
man heute mit Ausdrücken wie "verstärkte Zusammenarbeit"
oder "Avantgarde" bezeichnet. Im Grunde stammt die treffendste Formel
von Paul Henri Spaak: "die Staaten, die zügiger und weiter
vorangehen wollen". Die Gemeinschaftsinstitutionen waren mit der
allergrößten Sorgfalt zwischen sechs, einander sehr nahestehenden
Mitgliedstaaten berechnet worden. Der Beitritt Großbritanniens,
Irlands und Dänemarks musste zwangsläufig weitere Beitritte
nach sich ziehen. Je mehr Mitgliedstaaten es in Europa gibt, desto
schwieriger ist es für einen Staat, sich dem zu entziehen.
Deswegen ist die Zahl der Beitrittsstaaten kontinuierlich gestiegen,
was eine natürliche Bewegung darstellt: von sechs auf neun,
von neun auf zwölf, von zwölf auf fünfzehn und bald
von fünfzehn auf zwanzig oder sogar siebenundzwanzig
Keiner der
ursprünglich vorgesehenen Mechanismen kann dem Problem sowohl
der Heterogenität als auch der Schwerfälligkeit eines
solchen vielgestaltigen und staatenreichen Europas völlig gerecht
werden. Wäre die qualifizierte Mehrheit eine Lösung? Sicher.
Veto- und Blockaderisiken müssen unbedingt verhindert werden.
Jede Stimmgewichtung ist allerdings bestreitbar, und vor allem besteht
die Gefahr, dass keine kohärente und stabile zwischenstaatliche
Mehrheit entsteht. Damit begibt man sich auf unsicheres Gelände.
Die Rolle der
Europäischen Kommission ist wichtiger denn je. Man sollte allerdings
nicht vergessen, dass sie in einem Vorschlagsrecht und einem Ausgewogenheitsprinzip
besteht, vor allem zugunsten der "kleineren" Staaten, denen einen
Kommissarsitz vorzuenthalten, meines Erachtens ein Fehler wäre.
Es wäre da schon besser, die Kommission zweistufig zu gestalten,
mit einem einzigen Mitglied pro Land und Vizepräsidentschaften
für die großen Länder und die natürlichen Ländergruppen
bestehend aus kleineren Staaten. Während meiner Zeit als Kommissionsmitglied
hatte jedes einzelne der Beneluxländer einen Kommissar, aber
es gab nur einen Vizepräsidenten für alle drei. Außerdem
gibt es in allen unseren Regierungen Minister und Staatssekretäre,
die sich insgesamt wie in Frankreich auf etwa 30 Personen belaufen
können.
Aber auch wenn
all diese Anpassungsmaßnahmen auf die Bewahrung des Gleichgewichts
abzielen, geht doch von ihnen kein Anstoß für eine Weiterentwicklung
aus, für die - wie schon gesagt - unerlässliche Fortentwicklung
der europäischen Integration. Deswegen gibt es keine andere
Lösung als die Regel, auf die ich seit dem Beitritt Englands
immer wieder hinweise und die eine unausweichliche Konsequenz der
aufeinander folgenden Erweiterungen ist: ein je fallspezifisches
Vorgehen zur Weiterentwicklung.
"Wer will,
darf. Ohne dass diese Staaten ihre Sichtweise denjenigen aufzwingen
würden, die sich daran nicht beteiligen wollen. Aber auch ohne
dass diese den anderen Steine in den Weg legen könnten." Das
ist doch nicht schwer zu verstehen, oder?
Airbus, Ariane,
der Euro sind durchweg Formen der Weiterentwicklung, die auf eine
variable Geometrie zurückgehen. Das gilt sogar für die
Sechsergemeinschaft. Die sechs Gründungsmitglieder Europas,
die "schneller und weiter vorangehen wollten", sind dafür das
erste Beispiel. Die anderen sind später dazu gekommen.
Forum: Sollte
der Union Ihrer Ansicht nach nicht auch politisch Konsistenz verliehen
werden, sowohl damit ihre Zielvorstellungen den künftigen Mitgliedstaaten
klarer werden als auch um gegenüber den europäischen Bürgern
an Konkretheit zu gewinnen und sich ihnen anzunähern?
J.-F. Deniau:
Ich habe konkrete Fälle genannt: Airbus, Ariane. Europa fehlt
es an konkreten Anwendungen. Was der Öffentlichkeit im Gedächtnis
haften bleibt, sind die Haushaltsstreitigkeiten und die Rinderseuche.
In den Bereichen, die die öffentliche Meinung vorrangig interessieren
und in denen Europa unbedingt einen klaren und verständlichen
Beitrag zu leisten hat, muss zu einer Initiative angeregt werden.
Im Sport zu europäischen Mannschaften (das gibt es ja fast
schon). Vor allem aber im Kampf gegen das Doping. Im Gesundheitsbereich
zu einer gemeinsamen Krebsforschung etc.
Und auch für
die Demokratie, in Europa und anderswo! Die europäischen Unterstützungsmaßnahmen
werden derzeit schlecht überwacht und sind ziemlich unverständlich
und sehr theoretisch. Es ist uns zu keinem Zeitpunkt gelungen, einen
sinnvollen Zusammenhang zwischen Wirtschaftsbeihilfen und demokratischem
Fortschritt herzustellen. Unsere Haltung gegenüber Osteuropa
ist ein ziemlich trauriger Misserfolg. Wenn Rumänien wieder
in kommunistische Zeiten verfällt, Albanien im Chaos versinkt,
die Mafia überall an Boden gewinnt, dann ist das gerade eine
Herausforderung, unsere Herausforderung!
Wir waren von
Anfang an zusammen. Es liegt jetzt an uns Deutschen und Franzosen,
gemeinsam Überlegungen für ein lebendiges Bild von Europa
anzustellen und demgemäß zu handeln. Gemeinsam müssen
wir eine positive Haltung gegenüber den Problemen im Zuge der
Osterweiterung finden. Europa war für uns gleichbedeutend mit
Hoffnung. Jetzt müssen wir anderen Hoffnung bringen. Es geht
hier nicht um irgendwelche politische Parteientscheidungen. Es gibt
schlicht die, die wollen, und die, die nicht wollen.
Übersetzung
Forum (MT)
Veröffentlichungen
- "L'Ile
Madame" - Hachette littératures, 2001.
- "Tadjoura" - Hachette littératures, 1999.
- "Le bureau des secrets perdus" - Odile Jacob, 1998
- "L'Atlantique est mon désert" - Gallimard, 1998
- "Mémoires de sept vies" - Plon, T.1 1994, T. 1997.
- "Ce que je crois" - Le livre de poche, 1994.
- "La mer est ronde" - Gallimard, 1992.
- "La désirade" - Plon, 1992.
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