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Leben mit einem neuen Europa
Der weltweit anerkannte amerikanische Europa-Spezialist und Kenner der internationalen Szene analysiert in vorliegenden Artikel die den Grundlagen des amerikanischen Staates und des europäischen Integrationsprozesses inhärenten Unterschiede. Das sich vor unseren Augen bildende Europa ist ein pragmatisches und etappenweise fortschreitendes Europa. Pragmatismus und Patriotismus, der die Grundlage jeder Nation bildet, sind zwei unterschiedliche Werte. "Trotz einiger größenbedingter Ähnlichkeiten dürfte sich das Europa, das gerade im Entstehen begriffen ist, somit also in politischer Hinsicht vermutlich recht deutlich von Amerika unterscheiden." Aus diesem grundlegenden Unterschied ergibt sich, dass die Beziehungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten nicht als Rivalität gedeutet werden dürfen und dass der europäische Einigungsprozess auch in militärischer Hinsicht bei den Amerikanern keine Ängste wecken sollte. Ganz im Gegenteil. Neben der Langwierigkeit des europäischen Integrationsprozesses fällt es den Europäern schwer, eine wirkliche gemeinsame Militärmacht zu begründen. "In letzter Konsequenz ist das wahrscheinlichste Ergebnis der ESVI, dass die geplante Eingreiftruppe weder zu einem Konkurrenten der NATO noch zu dem seit langem vermissten europäischen Pfeiler für eine ausgewogenere Allianz führen wird." In den Augen von Zbigniew Brezinsky, sollten die amerikanischen Entscheidungsträger einsehen, dass diese Situation den amerikanischen Interessen nicht dienlich ist, dass die Vertiefung Europas sich für die Vereinigten Staaten positiv auswirken kann und dass "durch die ESVI die Entscheidungsfindungsprozesse der NATO wohl etwas schwerfälliger werden", ohne deswegen allerdings eine vollständige Umstrukturierung erforderlich zu machen. © 2001
Zbigniew K. BRZEZINSKI - Professor an der Johns Hopkins
University - Berater von Präsident Carter (1977-81)


Die transatlantische Allianz ist für Amerika weltweit die wichtigste internationale Partnerschaft. Sie bildet das Sprungbrett für das Engagement der Vereinigten Staaten in der Welt, ermöglicht Amerika, in Eurasien - der zentralen internationalen Machtarena - die entscheidende Rolle des Schlichters zu spielen und führt auf allen Schlüsselebenen der Macht und der Einflussnahme zu einer weltweit dominierenden Koalition. Amerika und Europa dienen sowohl als internationale Stabilitätsachse und als Motor der Weltwirtschaft wie auch als Nexus des weltweiten geistigen Kapitals und technologischer Innovation. Nicht minder wichtig ist, dass beide die Heimstätte der weltweit erfolgreichsten Demokratien bilden. Wie die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa gestaltet werden, muss deswegen für Washington höchste Priorität besitzen.

Auf längere Sicht würde das Entstehen eines politisch wirklich geeinten Europas eine grundlegende Wandlung der Machtverteilung in der Welt zur Folge haben, deren Konsequenzen so weitreichend wären, wie die Auswirkungen, die sich aus dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums und der daraus resultierenden weltweiten Vormachtstellung Amerikas ergeben haben. Der Einfluss eines solchen Europas auf die amerikanische Position in der Welt und auf das Mächtegleichgewicht in Eurasien wäre enorm, was unweigerlich schwerwiegende transatlantische Spannungen in beide Richtungen nach sich ziehen würde. Gegenwärtig ist keine der beiden Seiten gut gerüstet, um einer virtuell derart bedeutenden Veränderung zu begegnen. Ganz allgemein verstehen die Amerikaner den europäischen Wunsch nach einer Aufwertung ihrer Stellung in der Beziehung nicht ganz, und es fehlt ihnen an einer klaren Vorstellung von der Vielfalt der europäischen Sichtweise bezüglich der Vereinigten Staaten. Oftmals sind sich die Europäer hingegen nicht im Klaren über die Spontaneität und die Ehrlichkeit des amerikanischen Engagements gegenüber Europa und lassen sich bei der Wahrnehmung des amerikanischen Wunsches, die Allianz zwischen Europa und den Vereinigten Staaten zu bekräftigen, von einem europäischen Hang leiten, in allem eine machiavellistische Doppeldeutigkeit zu sehen.

Gleichwohl muss darauf hingewiesen werden, dass das Schlüsselwort des voranstehenden Abschnittes bezüglich eines wirklich geeinten Europas "würde" ist. Der Weg zu einer Europäischen Union mit eigenem politischen Gewicht und politischer Einheit ist nicht vorgezeichnet. Das Entstehen eines solchen Europas hängt von der Tiefe seiner politischen Integration, von der Breite seiner Erweiterung und von dem Entwicklungsniveau seiner künftigen, eigenen militärischen und politischen Identität ab. In all diesen Punkten sind die entscheidenden Schritte erst noch zu leisten.

Gegenwärtig ist Europa - trotz seiner ökonomischen Stärke, seiner fortgeschrittenen ökonomischen und währungspolitischen Integration und der beständigen Gültigkeit der transatlantischen Freundschaft - de facto ein militärisches Protektorat der Vereinigten Staaten. Diese Situation erzeugt naturgemäß Spannungen und Unmut, zumal die direkte Gefahr für Europa, die eine solche Abhängigkeit erträglich machte, offensichtlich geschwunden ist. Fest steht allerdings nicht nur, dass das Bündnis zwischen Amerika und Europa ein Bündnis zwischen Ungleichen ist, sondern auch, dass das bestehende Machtungleichgewicht sich sehr wahrscheinlich weiterhin zu Amerikas Gunsten verschieben wird.

Dieses Ungleichgewicht lässt sich sowohl auf die beispiellose Stärke des amerikanischen Wirtschaftswachstums zurückführen als auch auf die technologischen Innovationen in solch komplexen und diversen Gebieten wie der Bio- und Informationstechnologie, in denen Amerika eine Vorreiterrolle hat. Darüber hinaus erweitert die technologische Revolution im Militärbereich unter amerikanischer Führung nicht nur die militärische Reichweite der Vereinigten Staaten, sondern verändert auch das Wesen und den Gebrauch militärischer Macht als solcher. Aller kollektiver Anstrengungen von Seiten der europäischen Staaten zum Trotz ist es höchst unwahrscheinlich, dass Europa die militärische Lücke zu Amerika in absehbarer Zeit wird schließen können.

Daher werden die Vereinigten Staaten voraussichtlich die einzig wahre Weltmacht für mindestens eine weitere Generation bleiben. Und das bedeutet wiederum, dass Amerika im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts aller Voraussicht nach auch der tonangebende Partner im transatlantischen Bündnis bleiben wird. Infolgedessen wird die transatlantische Debatte nicht so sehr fundamentale Änderungen im Wesen der Partnerschaft, sondern die Auswirkungen voraussichtlicher Trends und ihre entsprechenden, aber eher marginalen Anpassungen betreffen. Man braucht allerdings wohl kaum hinzuzufügen, dass selbst stufenweise Anpassungen Konflikte hervorrufen können, die besser vermieden werden sollten, wenn die Partnerschaft zwischen den Vereinigten Staaten und Europa weiterhin konstruktiv und wahrhaft kooperativ sein soll.

Ein grundlegendes historisches Missverständnis begründet den fortdauernden Dialog zwischen Amerika und Europa, verkompliziert ihn allerdings gleichzeitig. Beide Seiten denken automatisch an Amerika, wenn sie von einem geeinten Europa träumen. Den Europäern schweben dabei die beeindruckenden Dimensionen des amerikanischen Kontinents und seine Stellung in der Welt vor, und in Augenblicken der Begeisterung malen sie sich ein künftiges Europa als eine weltweite Supermacht aus, die mit Amerika auf einer Stufe stünde. Wenn die Amerikaner gelegentlich - wenngleich skeptisch - die künftige Einheit Europas begrüßen, dann beziehen sie sich automatisch auf ihre eigene historische Erfahrung. Diese Sichtweise sorgt bei manchen Verantwortlichen der amerikanischen Außenpolitik für Unwohlsein, weil damit zwangsläufig die Vermutung einhergeht, dass Europa, wenn es denn "geeint" sein wird, gegenüber Amerika gleichberechtigt sei und potenziell zu seinem Rivalen werde.

Die europäischen Staatsmänner kommen im Laufe des europäischen Einigungsprozesses immer wieder auf die amerikanische Geschichte zu sprechen (einer von ihnen erklärte mir vor kurzem, dass die Europäische Union dieser Tage sich irgendwo zwischen 1776 und 1789 befinde). Und dennoch sind sich die meisten verantwortlichen Politiker in Europa durchaus dessen bewusst, dass es der Europäischen Union sowohl an der ideologischen Begeisterung als auch an der bürgerschaftlichen Loyalität gebricht, die nicht nur die Begründer der amerikanischen Verfassung als auch - gerade darin besteht der ausschlaggebende Test der politischen Beteiligung - jene beseelte, die für die Unabhängigkeit der amerikanischen Kolonien das letzte Opfer zu bringen bereit waren. Gegenwärtig und auf absehbare Zeit verhält es sich schlicht so, dass kein "Europäer" dazu bereit wäre, für "Europa" sein Leben zu lassen.

Wenn Europa erst integriert ist, wird es infolgedessen sowohl hinsichtlich seiner Gestalt als auch seinem Wesen nach etwas gänzlich Neues in der Geschichte der politischen Gebilde darstellen. Ungeachtet dessen, dass Europa für sich genommen weltweit zu den bedeutendsten Wirtschaften zählt, wird es sich zweifellos auch institutionell verfestigen. Insofern wird ihm allerdings die emotionale und idealistische Identifikation abgehen, die die Vereinigten Staaten bei ihrem Entstehen hervorgerufen haben. Diese Identifikation kam in einem transzendentalen Konzept politischer Freiheit zum Ausdruck, das zu universeller Gültigkeit ausgerufen wurde und das sowohl die philosophische Grundlage als auch das politisch attraktive Leuchtsignal für einen neu entstandenen Nationalstaat lieferte. Das Engagement der Staatsgründer und derjenigen, die später dazu stießen und darin aufgingen, hatte nahezu etwas Religiöses. Kurzum: Die amerikanische Revolution schuf eine neue Art Nationalismus, der gegenüber allem offen war, einen Nationalismus mit universellem Antlitz.

In der Präambel der US-amerikanischen Verfassung kommt die Eigentümlichkeit des amerikanischen Engagements für die nationale Einheit und die Freiheit zum Ausdruck:

We, the people of the United States, in order to form a more perfect Union, establish justice, insure domestic tranquillity, provide for the common defense, promote the general welfare, and secure the blessings of liberty to ourselves and our posterity, do ordain and establish …

Keinerlei Ähnlichkeit mit den Trommelschlägen der europäischen Nationen auf dem Weg zu einem gemeinsamen Europa. Es ist auffällig, dass die Römischen Verträge - der historische Schwur von sechs europäischen Nationen aus dem Jahre 1957, "die Grundlagen für einen immer festeren Zusammenschluss zu schaffen" - den Akzent schon eingangs auf die Garantie eines "wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts" legt, auf eine "stete Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen", eine "Beseitigung der bestehenden Hindernisse" auf dem Weg zu einem "ausgewogenen Handelsverkehr und redlichen Wettbewerb" und auf eine "fortschreitende Beseitigung der Beschränkungen im zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehr". Es handelt sich um ein bewundernswert pragmatisches, allerdings eben auch nüchternes Dokument.

Den grundlegenden Unterschied zwischen Amerika und Europa hervorzuheben, bedeutet nicht, die historische Bedeutung des europäischen Unterfangens abzuwerten, noch geht es darum, die Aufrichtigkeit derjenigen Europäer anzuzweifeln, die sich an der Errichtung einer neuen Architektur beteiligen. Es muss allerdings festgestellt werden, dass die Motivation, die das Projekt Europa definiert, im Laufe der Zeit zu einer Motivation des Nutzens und des Praktischen geworden ist. Der ursprüngliche Impuls für eine europäische Einigung war idealistischerer Natur. Europas "Gründungsväter" der späten 1940er und frühen 1950er Jahre waren erfüllt von einer transnationalen politischen Überzeugung und von der Entschlossenheit beseelt, ein für allemal mit den nationalistischen Konflikten Schluss zu machen, die zweimal im Verlauf des Jahrhunderts die europäische Zivilisation an den Rand der Zerstörung gebracht hatten. Sie fürchteten auch, dass ein durch die europäischen Auseinandersetzungen enttäuschtes Amerika die europäischen Nationen schlicht der zweiten großen historischen Option überlassen könnte, die den östlichen Teil der Trennungslinie "von Stettin nach Triest" - auf die ihr eigene schmutzige Weise - "einte".

Die Europäer von heute nehmen Europa in einer pragmatischeren Weise Ernst, obwohl manche - wie bereits erwähnt - von einer politischen Gestalt träumen, die Amerika herausfordern könnte. Französische Spitzenpolitiker, die bisweilen unfähig sind, ihren übergroßen Neid auf Amerikas Weltmachtstellung zu verbergen, sehen in Europa die Möglichkeit, die vergangene Größe Frankreichs wiederzuerlangen. Die Deutschen haben in Europa ihre eigene Wiedereingliederung gesucht. Die skeptischeren Briten sind letztlich zu dem Schluss gekommen, dass es zu einer Art Europa kommen würde und dass sie dazu gehören müssen, wenn sie ihr eigenes besonderes Verhältnis zu Amerika mit einer genuinen Bedeutung erfüllen wollen. Andere Völker des Kontinents - darunter auch die vor wenigen Jahren befreiten Völker Mitteleuropas - wünschen sich ebenfalls, Europäer zu werden, weil sie den Standpunkt vertreten, dass Teil von Europa zu sein, ein Mehr an Sicherheit, Wohlstand und Freiheit bedeutet. Keine dieser Motivationen ist unwürdig. Sie sind allesamt historisch gerechtfertigt und verdienen die Achtung Amerikas.

Nichtsdestotrotz unterscheidet sich eine pragmatische von einer patriotischen Haltung sowohl dem Wesen nach als auch im Hinblick auf die Folgewirkungen. Ein Gemeinwesen, dem ein Nutzwert beigemessen wird, unterscheidet sich zwangsläufig von einem Gemeinwesen, das auf einer Überzeugung aufbaut. Trotzdem kann natürlich auch ein nutzenorientiertes Gemeinwesen für Loyalität sorgen und ein Gemeinschaftsgefühl wecken. Wahrscheinlich ist es allerdings weniger ehrgeizig, in politischer Hinsicht weniger entschlossen und vor allem dem Idealismus und der persönlichen Opferbereitschaft weniger zugetan. Trotz einiger größenbedingter Ähnlichkeiten unterscheidet sich das Europa, das gerade im Entstehen begriffen ist, somit also in politischer Hinsicht vermutlich recht deutlich von Amerika: ein Hybridgebilde bestehend aus einem riesigen transnationalen Unternehmen, dem zuzugehören klug, nützlich und sogar angenehm ist, und aus einem konföderalen Staat, der im Laufe der Zeit vielleicht auch die genuine Loyalität seiner bis dahin distinktiven Gemeinschaften gewinnen wird. Kurz gesagt: Das nutzenorientierte Gemeinwesen Europas wird weniger sein als eine Art Vereinigten Staaten von Europa, allerdings mehr als nur eine Art EU-AG.

In Wahrheit ist für niemanden und für keinen Staat die Vermutung abwertend, dass das entstehende Europa international voraussichtlich eher einer größeren Schweiz entsprechen wird als den Vereinigten Staaten. Die Schweizer Verfassung - die den Streitigkeiten zwischen den Gemeinschaften ein Ende setzte - betont, dass die ethnisch unterschiedenen Schweizer Kantone sich dazu entschlossen haben, "[ihren] Bund zu erneuern", dass sie entschlossen seien, "in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben ", und geht dann dazu über, die praktischen Ziele der Konföderation zu bestimmen. Im Ausland bestand der Hauptschwerpunkt des internationalen Engagements der Schweiz in den wichtigen Bereichen des internationalen Finanz- und Handelsgeschäfts, wohingegen sie es vermieden hat, sich in die globalen politisch-philosophischen Konflikte dieses Jahrhunderts einzuschalten.

Integration, nicht Vereinigung

In jedem Fall scheint der Schluss zulässig, dass "Europa" auf absehbare Zeit kein "Amerika" werden wird, genau genommen: werden kann. Wenn die Implikationen dieses Faktums zu beiden Seiten des Atlantiks erst einmal verarbeitet worden sind, sollte sich der Dialog zwischen den Vereinigten Staaten und Europa eigentlich entspannen, selbst wenn die Europäer mit den Dilemmata im Zusammenhang mit ihrem gleichzeitigen Bemühen um Integration, Expansion und eine ansatzweise Militarisierung konfrontiert sind und selbst wenn die Amerikaner sich an ein neues, europäisches politisches Gemeinwesen, das zwangsläufig entstehen wird, gewöhnen müssen.

Die Vereinigung mehrerer Völker erfolgt normalerweise als das Ergebnis einer äußeren Notwendigkeit, eines gemeinsamen ideologischen Engagements, einer Vorherrschaft durch das mächtigste Volk oder eine Kombination aus all diesen Faktoren. In der ersten Phase des Europäischen Einheitsstrebens waren alle drei Faktoren, allerdings in unterschiedlichem Maße, im Spiel. Die Sowjetunion bildete eine wirkliche Bedrohung; der europäische Idealismus nährte sich aus der noch frischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg; und Frankreich, das das Gefühl moralischer Verletzlichkeit Westdeutschlands ausnutzte, konnte so Deutschlands wachsendes Wirtschaftspotenzial zu eigenen politischen Zwecken umlenken. Gegen Ende des Jahrhunderts haben diese Impulse sichtbar nachgelassen. Folglich wurde die europäische "Integration" - zu weiten Teilen ein Prozess der Regelangleichung - zur Aternativdefinition der Einheit. Auch wenn die Integration allerdings einen durchaus sinnvollen Weg zur Erzielung einer effektiven Fusion darstellt, bleibt eine solche Fusion doch weit hinter einer in emotionaler Hinsicht aussagekräftigen Partnerschaft zurück.

Tatsache ist, dass eine bürokratisch ausgerichtete Integration schlicht und ergreifend den politischen Willen zu einer genuinen Einheit nicht zutage fördern kann. Sie ist weder dazu in der Lage, die Phantasie zu beflügeln (trotz der gelegentlichen rhetorischen Floskeln über Europa auf einer Stufe mit Amerika) noch den Todesmut zu wecken, der einen Nationalstaat, der Feindseligkeiten ausgesetzt ist, am Leben erhalten kann. Der 80.000 Seiten umfassende und in 31 Politikfeldsektoren aufgeteilte acquis communautaire - den ein neu in die Europäische Union aufgenommener Mitgliedstaat ratifizieren muss - wird aller Wahrscheinlichkeit nach für den durchschnittlichen Europäer nicht den notwendigen Nährwert enthalten, um eine politisch kräftige Loyalität zu befördern. Gleichwohl sollte noch einmal darauf hingewiesen werden, dass angesichts der fehlenden drei anderen Möglichkeiten, eine Einheit zu erzielen, die Integration augenblicklich nicht nur notwendig ist, sondern auch den einzigen Weg darstellt, auf dem Europa zu einer "Einheit" voranschreiten kann.

Die Diskrepanz zwischen "Vereinigung" und "Integration" wiederum erklärt, warum die Integration zwangsläufig langsam erfolgt und warum es, wenn sie in der ein oder anderen Form beschleunigt würde, sogar zu einer neuerlichen Spaltung Europas kommen könnte. Jeder Versuch, den politischen Einigungsprozess zu beschleunigen, würde nämlich voraussichtlich die internen Spannungen zwischen den tonangebenden Staaten innerhalb der Union verstärken, weil jeder einzelne Staat auf dem kritischen Gebiet der Außenpolitik immer noch auf die Bewahrung seiner Souveränität pocht. In dieser Hinsicht kann auch der Antiamerikanismus als Einheitsmotor - selbst wenn er im rhetorischen Gewand der "Multipolarität" daherkommt - keine einigende Kraft darstellen, wie es der Antisowjetismus ehemals war, weil die meisten Europäer dem nicht zustimmen. Außerdem betrachtet im Anschluss an die Wiedervereinigung Deutschlands außerhalb von Paris niemand mehr in Europa Frankreich als den heimlichen Antreiber des neuen Europas. Andererseits wünscht sich auch niemand, dass Deutschland zur führenden Nation in Europa aufsteigt.

Trotzdem ist Integration nicht nur ein langwieriger Prozess. Vielmehr erhöht jeder erfolgreiche Schritt auch die Komplexität des Unterfangens. Integration bedeutet im Grunde ein schrittweises und in hohem Maße ausbalanciertes Fortschreiten auf dem Weg zu einer Vertiefung der Interdependenz zwischen den konstitutiven Einheiten. Deren Interdependenzverdichtung ist allerdings nicht mit einer einheitstiftenden politischen Leidenschaft erfüllt, die der Anspruch auf eine eigene globale Unabhängigkeit erfordert. Das könnte eventuell eintreten, wenn die Europäer dazu übergingen, sich selbst in politischer Hinsicht als Europäer zu sehen, während sie bezüglich ihrer linguistischen und kulturellen Besonderheiten beispielsweise Deutsche oder Franzosen blieben.

Horizontale Expansion

Aufgrund der zögerlichen Fortschritte Europas scheint unterdessen eine externe Expansion zu einer partiellen Kompensation des schleppenden internen Integrationstempos zu werden. Europa wird sich vergrößern, allerdings eher horizontal denn vertikal, insofern beide Bewegungen unter praktischen Gesichtspunkten nicht gleichzeitig bedeutende Fortschritte machen können. Dieses schmerzvolle Faktum ist ein heikler Punkt für die überzeugten Europäer. Als Jacques Delors zu Anfang des Jahres 2000 ohne Umschweife einzugestehen wagte, dass, "insofern das Tempo [der Erweiterung] zweifelsohne erhöht wurde, … wir somit Gefahr laufen, den Grundriss" der europäischen Integration zu "verwässern", mit dem Ergebnis, dass "wir uns unweigerlich von einem politischen Europa, so wie es von den europäischen Gründungsvätern definiert worden war, entfernen", wurde er fast unmittelbar darauf von einem Landsmann und EU-Kommissar, Michel Barnier, öffentlich zurecht gewiesen.

Die Kommissare in Brüssel hoffen darauf, dass die bürokratische Straffung und institutionelle Erneuerung den Integrationsprozess stärken werden. Beflügelt von dem bescheidenen Erfolg des Euro - trotz einiger apokalyptischer Vorhersagen von Seiten vor allem amerikanischer und britischer Kritiker - hat Brüssel im Vorgriff auf die umfassende Vergrößerung mit der seit langem bestehenden Regierungskonferenz zur europäischen Institutionenreform einen Schritt vorwärts gemacht. Aber selbst die stärksten Befürworter der Erweiterung geben zu, dass eine politisch signifikante Integration sich eine Zeitlang bestenfalls auf den inneren Kern der EU wird beschränken müssen, wodurch vermutlich ein Europa - wie es heißt - "unterschiedlicher Geschwindigkeiten und variabler Geometrie" begründet würde. Aber selbst wenn dies eintreten sollte, ist es zweifelhaft, ob diese Formel den Grundkonflikt zwischen Integration und Expansion lösen wird, insofern nämlich die Entwicklung einer gemeinsamen Außenpolitik betroffen ist. Ein derart gestaltetes Europa würde eine Zweiteilung in Mitglieder der ersten und der zweiten Klasse bedeuten, wobei letztere gegen jede wichtige außenpolitische Entscheidung Einspruch erheben würden, die in ihrem Namen von einem Direktorium angeblich authentischerer europäischer Staaten getroffen worden wären.

In jedem Fall verspricht auch die Erweiterung zu einer zunehmend kraftaufwändigen und komplizierten Aufgabe zu werden. Mit rund 200 Arbeitsgruppen, die sich auf die langwierigen Verhandlungsprozesse bezüglich der Beitrittsmodalitäten von rund einem Dutzend neuer Beitrittskandidaten vorbereiten, wird die Vergrößerung vermutlich sowohl aufgrund der ihr innewohnenden Komplexität als auch wegen des fehlenden Willens der EU-Mitgliedstaaten an Tempo verlieren. Die Aufnahme der mitteleuropäischen Staaten bis zum Jahre 2004 wird nämlich immer problematischer. Auf längere Sicht jedoch kann die Expansion nicht vermieden werden. Ein amputiertes Europa kann kein wahres Europa sein. Eine geopolitische Leere zwischen Europa und Russland wäre gefährlich. Abgesehen davon würde ein alterndes Westeuropa wirtschaftlich und gesellschaftlich zu stagnieren beginnen. Deswegen ist es nicht weiter verwunderlich, dass einige führende europäische Planungsstäbe damit begonnen haben, sich für ein Europa mit nahezu 25 oder gar 40 Mitglieder bis zum Jahre 2020 stark zu machen - ein Europa, das geographisch und kulturell ein Ganzes bilden würde, das sich politisch dann allerdings sicherlich aufgelöst hätte.

Eine Frage der Muskelkraft

So wird also voraussichtlich weder auf dem Wege der Integration noch durch die Erweiterung das authentisch-europäische Europa entstehen, von dem einige Europäer träumen und vor dem sich manche Amerikaner fürchten. In der Tat fühlt eine wachsende Zahl von Europäern, dass die Kombination zwischen Euro und Integration mit einer langsamen Vergrößerung nur eine wirtschaftliche Souveränität befördern kann. Das politische Bewusstsein, dass das nicht alles sei, veranlasste die drei führenden europäischen Staaten - Frankreich, Großbritannien und Deutschland - dazu, im Jahre 1999 ihre Bemühungen zusammenzulegen, um glaubwürdige europäische Militärkapazitäten ins Leben zu rufen, und das noch bevor überhaupt ein integriertes Europa entstanden wäre, das eine eigene Außenpolitik definiert hätte. Die angestrebten europäischen Militärstreitkräfte sollen dazu dienen, der GASP mehr Kraft zu verleihen, die von dem neuen Amt des Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Anstöße erfahren soll.

Der Vorschlag einer gemeinsamen schnellen Eingreiftruppe, die bis zum Jahre 2003 einsatzfähig sein soll, wird der erste spürbare Ausdruck eines politischen Europas sein. Im Unterschied zu dem bereits bestehenden, allerdings weitestgehend symbolischen "Eurocorps" - das sich aus Franzosen, Deutschen, Spaniern und anderen Rekruten zusammensetzt und das weder über Mobilität noch über Militärkapazitäten verfügt - sollen die geplanten Streitkräfte im Einsatzfall auf der Basis der im Vorfeld dazu eingerichteten Kampfeinheiten zusammengerufen werden, ihre Zahl soll bei bis zu 60.000 und binnen 60 Tagen einsatzfähigen Soldaten liegen, und sie sollen sich auf einem Kampfschauplatz "in oder in der Nähe Europas" zumindest ein Jahr lang halten können. In der Tat würden zahlreichen europäischen Schätzungen zufolge solche Streitkräfte einem Truppenverband mit 150 bis 300 Kampfflugzeugen entsprechen, 15 Kampfschiffen, strategischen Transportkapazitäten und dem erforderlichen C3I (command, control, communications and intelligence). Die europäischen Militärexperten müssen eine beschleunigte Prüfung des Bestands der verfügbaren europäischen Kampfmittel durchführen, so dass die Streitkräfte zur Friedenserhaltung oder sogar in - weiter nicht spezifizierten - begrenzten Gefechtsoperationen eingesetzt werden können. Deren Einrichtung würde die Geburtsstunde einer eigenen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität (ESVI) bedeuten, die außerhalb der NATO zu militärischem Handeln befähigen würde.

Dennoch muss die Europäische Verteidigungsinitiative - die auf das aufrichtige Gefühl von Europas militärischen Unzulänglichkeiten zurückgeht, die im Kosovo-Krieg zutage getreten waren, und die von den französischen Ambitionen angespornt, aber von den britischen und deutschen Neigungen, die Amerikaner zu beruhigen, gedämpft wurde - erst noch drei grundlegende Prüfungen bestehen: Wird sich die Eingreiftruppe als schnell einsatzbar, als militärisch operationell und logistisch von Dauer erweisen? Europa verfügt über die Mittel, solche Streitkräfte zu begründen. Die Frage ist nur, ob sie dazu auch den Willen hat.

Im Augenblick ist noch Skepsis angebracht. Die Verantwortlichen der Verteidigungspolitik in Europa haben die Ansicht vertreten, dass die Eingreiftruppe ohne zusätzliche Ausgaben mittels einer gezielten Umverteilung der bestehenden verteidigungspolitischen Haushaltsposten zusammengestellt werden könne - eine Aussage, die dem gesunden Menschenverstand widerspricht. Für ernst zu nehmende europäische Kommentatoren ist es offensichtlich, dass die geplanten Einsatzkräfte Verbesserungen in den Bereichen der zentralen Logistikkontrolle, der gemeinsamen Militärdepots und vermutlich auch einige gemeinsame Manöver voraussetzt. Dadurch würden allerdings zusätzliche Kosten entstehen, ganz unabhängig von dem grundlegenderen Bedarf an angemessenen Aufklärungs- und Spionagekapazitäten sowie an einer kompetitiveren und besser konsolidierten europäischen Verteidigungsindustrie. In den letzten Jahren ist demgegenüber allerdings der Gesamtanteil der europäischen Verteidigungshaushalte sowie der Entwicklungs- und Forschungsbudgets in diesem Bereich in Wahrheit gesunken, wobei die europäischen Verteidigungsausgaben seit 1992 in bereinigten Zahlen um rund 22% gefallen sind.

Kritisch daran ist, dass die politische Sparsamkeit die militärische Ernsthaftigkeit des Projekts unterläuft. Wie Daniel Vernet in Le Monde im September 1999 schrieb, müssten die Europäer, damit die europäische Eingreiftruppe gebildet wird, "ganz genau wissen, was sie wollen, (politisch sensible und finanziell aufwendige) verteidigungspolitische Umstrukturierungsprogramme definieren und letztlich die haushaltspolitischen Ressourcen zuweisen, um ihren Zielvorstellungen gerecht werden zu können." Darüber hinaus muss ein Rotationspool rund 180.000 kampfbereite europäische Soldaten umfassen, um Streitkräfte in Höhe von 60.000 Mann länger als ein Jahr auf dem Gefechtsfeld zu belassen. Das ist nicht der Fall.

Eine zusätzliche Komplikation, die noch mehr Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Projektvorschlags aufkommen lässt, besteht darin, dass einige europäische Staaten Mitglieder der EU, nicht aber der NATO (die "neutralen" Staaten) sind, andere hingegen Mitglieder der NATO, nicht aber der EU (Amerikas "Trojanische Pferde", will man einigen Förderern Europas Glauben schenken). Ihre künftige Beziehung zu der ESVI ist deswegen auch unklar, und in jedem Fall wird es die Lage unweigerlich verkomplizieren. Darüber hinaus - vielleicht der wichtigste Punkt überhaupt - könnte das Zusammenspiel der geplanten Eingreiftruppe mit den bestehenden NATO-Strukturen in operationeller Hinsicht störend und in politischer Hinsicht spaltend wirken.

In letzter Konsequenz ist das wahrscheinlichste Ergebnis der ESVI, dass die geplante Eingreiftruppe weder zu einem Konkurrenten der NATO noch zu dem seit langem vermissten europäischen Pfeiler für eine ausgewogenere Allianz führen wird. Auch wenn die Europäer vermutlich ihre eigene militärische Planung und gemeinsamen Kommandostrukturen - vor allem nach der anstehenden Übernahme der Westeuropäischen Union durch die EU - ein wenig verstärken werden, so ist doch ein stückweises Entstehen verbesserter europäischer Kapazitäten in den nächsten fünf Jahren wahrscheinlicher, um für friedensbewahrende Einsätze außerhalb der NATO auf nicht allzu gewaltsamen Konfliktschauplätzen in Europa (aller Wahrscheinlichkeit nach auf dem Balkan) zu sorgen. Der sogenannte europäische Pfeiler wird nämlich weniger aus Stahl und Beton bestehen denn aus Papiermaché. Folglich ist Europa weit davon entfernt, zu einer kompletten Weltmacht zu werden. So schmerzhaft es auch für diejenigen sein mag, die gerne ein politisch starkes Europa sehen würden, es fehlt den meisten Europäern doch auch weiterhin nicht nur an der Bereitschaft, für die europäische Sicherheit zu sterben, sondern sogar, für sie zu bezahlen.

US-Politiker sollten bei ihrer Europa-Politik ein simples Gebot im Auge behalten: Mache nicht das Ideal zum Feind des Guten! Aus Washingtons Sicht bestünde das Ideal in einem politisch geeinten Europa, das ein engagiertes Mitglied der NATO wäre, das also einen ebenso hohen Verteidigungshaushalt hätte wie die Vereinigten Staaten, das seine Mittel aber fast völlig in den Dienst der Verbesserung der NATO-Kapazitäten stellen würde; in einem Europa, das NATO-Interventionen "out of area" zustimmen würde, um Amerika global zu entlasten, und das sich Amerikas geopolitischen Interessen in angrenzenden Regionen, insbesondere Russland und dem Mittleren Osten, verpflichtet fühlen und sich bei internationalen Handels- und Finanzfragen als entgegenkommend erweisen würde.

Das Gute ist ein Europa, das ökonomisch eine stärkere Konkurrenz darstellt, das beständig die europäischen Interdependenzprozesse ausweitet, dessen politisch-militärische Unabhängigkeit jedoch mit dieser Entwicklung nicht Schritt hält, und das seine eigenen Interessen darin erkennt, dass Amerika an der Peripherie Eurasiens militärisch präsent ist, selbst wenn es sich gleichzeitig über seine relative Abhängigkeit ärgert und zögerlich eine allmähliche Emanzipation anstrebt.

US-Politiker sollten erkennen, dass „das Gute" im Grunde vitalen amerikanischen Interessen dient. Sie sollten bedenken, dass Initiativen wie die Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität ein Ausdruck der europäischen Suche nach Selbstachtung sind, und dass Ermahnungen - eine Litanei von Verboten, die sowohl aus dem Außen- als auch aus dem Verteidigungsministerium kommen - lediglich europäischen Unmut steigern und die Deutschen und die Briten in die Arme der Franzosen treiben können. Außerdem kann amerikanischer Widerstand gegenüber diesen Bemühungen dazu führen, dass einige europäische Staaten zu der - falschen - Überzeugung gelangen, dass die NATO wichtiger für die US-amerikanische als für die europäische Sicherheit ist. Und schließlich - ausgehend von den Realitäten europäischer Politik - sind die Probleme, vor die die Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität die NATO steht, prozessualer und nicht prinzipieller Natur. Und Probleme prozessualer Natur werden sicherlich nicht dadurch leichter gelöst, indem man sie zu Prinzipienfragen stilisiert.

Daher sind dramatische Warnungen vor einer "Entkoppelung" kontraproduktiv. Sie haben einen theologischen Beigeschmack und verwandeln Meinungsverschiedenheiten, die ausgeglichen werden können, zu Divergenzen, die doktrinäre Auseinandersetzungen zur Folge haben. Sie erinnern an frühere Auseinandersetzungen innerhalb der NATO, die zu nichts Gutem führten - sei es das erfolglose Projekt einer Multilateralen Nuklearstreitmacht der frühen 60er Jahre, das nur das französische Nuklearprogramm beschleunigte, oder sei es die jüngste, kurze Erschütterung von 1999, als von Amerika betriebene Bemühungen, die NATO zu einer Art globalem Bündnis („out of area") umzugestalten, mit dem Ausbruch des Kosovo-Krieges ein schnelles Ende fanden. Solche Streitigkeiten schmälern und beeinträchtigen eine grundlegende Wirklichkeit: Die NATO mit seiner wahrhaft bemerkenswerten Erfolgsgeschichte mag alles andere als perfekt sein, sie muss aber auch nicht in spektakulärer Weise generalüberholt werden.

Wir sollten hier innehalten und fragen: Selbst wenn es die neue Europäische Streitmacht im Jahr 2003 geben sollte, wo und wie könnte sie denn überhaupt eigenverantwortlich agieren? Unter welchen Bedingungen könnte sie entschlossen handeln, ohne die vorherige Zusicherung der NATO-Unterstützung und ohne eine faktische Abhängigkeit von den NATO-Kapazitäten? Nehmen wir einen Konflikt in Estland an, in dem der Kreml die russische Minderheit aufhetzt und dann zu intervenieren droht; Europa würde keinen Finger rühren ohne eine direkte NATO-Beteiligung. Nehmen wir an, Montenegro erklärt seine Unabhängigkeit und Serbien marschiert ein; ohne US-Beteiligung würde die geplante Euro-Streitmacht wahrscheinlich besiegt werden. Auch wenn soziale Unruhen in manchen europäischen Provinzen - zum Beispiel Transsylvanien oder sogar Korsika! - eventuell eher mit einer Euro-Streitmacht befriedet werden können (ähnlich wie in Bosnien), sind solche Interventionen doch kaum ein Beispiel für ein Europa, das im Begriff ist, "ein unabhängiger Akteur auf der internationalen Bühne" zu werden, um den französischen Verteidigungsminister Alain Richard zu zitieren.

Bei einer wirklich aufwendigen Mission würde die geplante Europäische Eingreiftruppe sich stark auf die NATO-Kapazitäten in den Schlüsselbereichen der Aufklärung, Spionage und Luftbrücken stützen müssen. Diese Kapazitäten gehören vor allem den Amerikanern, auch wenn sie der NATO zugeordnet sind. Deswegen wäre die NATO de facto involviert, selbst wenn sie ursprünglich die Möglichkeit einer ersten Ablehnung wahrgenommen hätte. Kurz: Wenn es zu einer ernsten Krise kommt, wird die europäische Reaktion nicht unabhängig ausfallen; wenn die Reaktion unabhängig erfolgt, handelt es sich demnach nicht um eine ernste Krise.

Sicherlich werden Anpassungsmaßnahmen innerhalb der NATO unvermeidlich sein, wenn sich Europa nach und nach zu einem straffer definierten Institutionengebilde entwickelt. Durch die ESVI werden die Entscheidungsfindungsprozesse der NATO etwas schwerfälliger werden, und der europäische Beitrag zur eigenen militärischen Stärkung der NATO könnte sogar marginal davon in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn die EU nach so etwas wie eigenen Truppenverbänden strebt. Die ESVI wird - vor allem, wenn die Europäer innerhalb der EU eine Art europäische Verteidigungsinstanz eingerichtet haben werden - auch dazu führen, dass eine gemeinsame europäische Strategieperspektive stimuliert wird, der Amerika wird Rechnung tragen müssen. Eine gemeinsame europäische sicherheitspolitische Position wird allerdings eher durch eine graduelle Konsolidierung der europäischen Verteidigungsindustrie und durch eine intensivierte europäische Militärplanung entstehen, als indem man sich vorschnell - vor allem bis 2003 - auf eine autonome europäische Kampfkapazität stürzt.

In Wirklichkeit hat Europas Inaktivität nach dem Kosovo-Krieg größere Konsequenzen auf die Zukunft der NATO als die fehlende Leistungsstärke Europas, die sich während des Kosovo-Krieges gezeigt hat. Es ist verwunderlich, dass "Europa" nicht nur unfähig ist, sich selbst zu schützen, sondern auch für Ruhe und Ordnung innerhalb seiner Grenzen zu sorgen. Die Unfähigkeit der europäischen Staaten, bei konkreten friedensbewahrenden Einsätzen in einer kleinen und schwachen Region ganz allein vorzugehen - und ihre Abneigung, für die notwendige Finanzierung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus Sorge zu tragen - stellt den Zusammenhalt der NATO vor eine langfristig ernsthaftere Herausforderung als die ESVI. Das könnte das amerikanische Unbehagen nur noch vergrößern gegenüber der angemessenen Rolle der US-Streitkräfte bei der europäischen Verteidigung.

In einer näheren Zukunft könnten die Pläne der Vereinigten Staaten zur Einrichtung eines Raketenabwehrsystems für ein noch umstritteneres Streitthema (größerer strategischer Tragweite) sorgen. Die in den Vereinigten Staaten anhaltende Debatte über die Raketenabwehr ist hauptsächlich von innenpolitischen Erwägungen geprägt, und eine unilaterale amerikanische Entscheidung würde von Europa zweifellos negativ aufgenommen werden. In der Tat könnte eine unilaterale Haltung Amerikas in dieser Frage schwerwiegendere Konsequenzen haben als noch die größten amerikanischen Vorbehalte angesichts der vermuteten "Abkoppelungseffekte" auf die Sicherheit der Vereinigten Staaten und Europas. Wenn die transatlanischen Sicherheitsbeziehungen auch weiterhin eine zentrale strategische Priorität der Vereinigten Staaten darstellen sollen, so ist es gegenwärtig fraglos besser, mit den Alliierten Amerikas in einen umfassenden Dialog zu treten über die Machbarkeit, die Kosten, die verteidigungspolitischen Austauschbeziehungen und die sowohl politischen als auch strategischen Folgen einer Raketenabwehr. In jedem Fall ist es selbst für eine vorsichtige Beurteilung noch zu früh, wie dringend und wie praktikabel ein solches Verteidigungsschild überhaupt sein kann.

Unterdessen sollte eine strategische Hauptpriorität der Vereinigten Staaten in der Weiterführung der NATO-Erweiterung liegen. Die NATO-Erweiterung bietet die bestmögliche Garantie für die Fortsetzung der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen. Sie dient der Schaffung eines sichereren Europas mit einer geringeren Zahl an geopolitisch unsicheren Gebieten und erhöht damit auch die Bedeutung, die Europa einer starken und glaubwürdigen Allianz beimessen wird. Es scheint nämlich sinnvoll, für eine Revision der im Jahre 1999 getroffenen Entscheidung der NATO einzutreten, sich mit der Erweiterungsproblematik nicht vor 2002 auseinanderzusetzen, und ernsthafte Bemühungen anzustrengen, um nach Amtsantritt des neuen Präsidenten über die künftigen Mitglieder noch im Jahre 2001 zu befinden. Mehrere Staaten scheinen beitrittsfähig zu sein, weil sie nicht nur die Kriterien erfüllen, die vor kurzem für Polen, die Tschechische Republik und Ungarn eingerichtet wurden, sondern darüber hinaus sogar die vorangegangenen Kriterien für Spanien. Eine vorgezogene Wiederaufnahme des Erweiterungsprozesses würde ein klares Signal setzen, dass die transatlantische Sicherheitsbeziehungen nicht nur weiterhin vital sind, sondern auch, dass Amerika und Europa sich beide ernsthaft mit der Gestaltung eines sicheren Europas befassen, das eine wirklich europäische Dimension besitzt.

Das amerikanische Eintreten für eine Wiederaufnahme der NATO-Erweiterung geht mit dem amerikanischen Interesse an einer Vergrößerung der EU einher. Je größer Europa wird, desto unwahrscheinlicher ist es, dass externe oder interne Bedrohungen eine ernsthafte Herausforderung des internationalen Friedens darstellen werden. Mehr noch: Je mehr sich langfristig die Mitgliedschaften zwischen der NATO und der EU überschneiden, desto größer wird auch der Zusammenhalt zwischen der transatlantischen Gemeinschaft sein und desto überzeugender wird die Komplementarität zwischen der Sichtweise von Atlantikern und europäischen Beförderern. Es ist ein glücklicher Sachverhalt, dass einige der Kandidaten, die üblicherweise für eine Mitgliedschaft entweder in der NATO oder in der EU in Frage kommen, zufällig dieselben Länder sind. Die Vereinigten Staaten können das überzeugende Argument vorbringen, dass Slowenien, die Slowakei und Litauen die Kriterien für eine NATO-Mitgliedschaft bereits erfüllen bzw. nahezu erfüllen. Einer vergleichenden Studie von Pricewaterhouse-Coopers zufolge sind einige mitteleuropäische Staaten (darunter Slowenien und Estland) - in Hinsicht ihrer makroökonomischen Stabilität: BIP, wirtschaftliche Verflechtungen mit der EU, ökonomische Infrastruktur - für eine EU-Mitgliedschaft beitrittsfähiger als es Griechenland war. Polen und die Tschechische Republik, die beide bereits Mitglieder der NATO sind, lagen in einer Rangliste von The Economist kürzlich vor Italien! Das verschlimmert nur noch zusätzlich die Tatsache, dass "die gegenwärtigen Zugangsbedingungen zahlreicher und strenger sind als die Aufnahmekriterien, die von den südeuropäischen Staaten zu einem früheren Beitrittsdatum erfüllt werden mussten".

Die Tatsache, dass einige Länder den EU- und NATO-Betritt verdienten, sollte eine stärkere Unterstützung beider Erweiterungen durch die Vereinigten Staaten erleichtern und fördern. Deswegen wäre eine Beratung zwischen NATO und EU auf hoher Ebene in Bezug auf eine stufenweise, allmähliche und fortgesetzte Expansion durchaus angezeigt. Gegenwärtig sind selbst Spekulationen darüber verfrüht, wo eventuell die sich hoffentlich überschneidenden Außengrenzen der beiden Organisationen verlaufen könnten. Viel wird dabei von der Entwicklung Russlands abhängen, für das die Tore zu einem atlantischen Europa offen bleiben sollten. Eine erweiterte EU, die sich mit der NATO überschneidet, kann Russlands positive Entwicklung begünstigen, weil dadurch alte imperialistische Versuchungen gedämpft werden könnten. Russland könnte sodann sein ureigenstes Interesse erkennen, einzulenken und sich der NATO anzuschließen. Andernfalls würde eine erweiterte NATO für die notwendige Sicherheit eines größeren Europas sorgen. In jedem Fall jedoch wäre es unvorsichtig, eine Mitgliedschaft betrittsfähiger Staaten in der NATO oder der EU von vornherein auszuschließen.

Abgesehen davon ist allerdings weder aus geopolitischer noch aus wirtschaftlicher Sicht die Feststellung verfrüht, dass, wenn NATO und EU sich erst einmal um die baltischen und einige der südosteuropäischen Staaten erweitert haben werden, die darauf folgende Einbeziehung nicht nur der Türkei, sondern auch Zyperns - im Anschluss an eine türkisch-griechische Einigung - und Israels - im Anschluss an einen vollständigen Frieden mit all seinen Nachbarstaaten - zu einem wünschenswerten Ziel werden könnte. In dem Maße, wie sich Europa vergrößert, wird die transatlantische Gemeinschaft darüber hinaus irgendwann auf die Signale von Ländern wie der Ukraine oder Georgiens reagieren müssen, deren langfristiges Ziel die Erlangung der Beitrittsfähigkeit zu dem großen historischen Projekt ist, das sich in der EU unter dem Sicherheitsschutz der NATO vollzieht.

Durch eine Förderung dieses gewaltigen Projektes sollten die Vereinigten Staaten weiterhin die Bemühungen der EU nach vertiefter Integration unterstützen, selbst wenn diese Unterstützung hauptsächlich rhetorischer Natur ist. Die Vereinigten Staaten haben es klugerweise vermieden, sich mit der konservativen Opposition in Großbritannien gegen Europas politische und monetäre Einheit zu identifizieren, und sie sollten ebenso der gelegentlich auftauchenden Versuchung widerstehen, Schadenfreude zu zeigen, wenn Europa ins Straucheln gerät. Gerade aus dem Grunde, weil die europäische Integration langsam vorangehen und weil die politische Gestalt Europas nicht Amerika gleichen wird, braucht Amerika keine Angst davor zu haben, dass ihm ein Rivale erwächst. Die transatlantische Partnerschaft ist eher so etwas wie eine Ehe, die gegenseitig respektierte Unterschiede - inklusive einer gewissen Arbeitsteilung - und Gemeinsamkeiten miteinander vereint. Beides dient faktisch einer Festigung der Partnerschaft. Dies war im letzten halben Jahrhundert der Fall, und es wird auch auf absehbare Zeit so bleiben.

Aufgrund der Veränderlichkeit des internationalen Systems sollten die transatlantischen Beziehungen eigentlich gestärkt werden. Europa und die Vereinigten Staaten machen zusammen knapp 15 Prozent der Weltbevölkerung aus und sind allseits sichtbare Inseln von Wohlstand und Privilegien in einer brodelnden und ruhelosen globalen Welt. In einem Zeitalter unmittelbarer Informationsübermittlung kann sich ein Bewusstsein von Ungleichheiten schnell in politische Feindseligkeit gegenüber denjenigen verwandeln, die beneidet werden. Eigeninteresse als auch ein Sinn für die potenzielle Verwundbarkeit sollten daher weiterhin das Fundament für eine dauerhafte Allianz zwischen den Vereinigten Staaten und Europa liefern.

Das europäische Institutionengefüge, am westlichen Rand von Eurasien und in unmittelbarer Nähe zu Afrika gelegen, ist den Gefahren im Zusammenhang mit zunehmenden globalen Unruhen stärker ausgesetzt als das politisch geeintere, militärisch schlagkräftigere und geographisch isoliertere Amerika. Die Europäer sind unmittelbarer bedroht, wenn chauvinistischer Imperialismus wieder die Russische Außenpolitik bestimmen sollte oder wenn Afrika und/oder Südzentral-Asien schlimmere soziale Fehlschläge erleiden. Die Ausbreitung von Nuklearwaffen und anderen Massenvernichtungs-waffen stellt ebenso eher eine Gefahr für Europa dar, wenn man Europas begrenzte Militärkapazitäten bedenkt und die Nähe der potenziell bedrohlichen Staaten. So weit man sehen kann, wird Europa weiterhin Amerika brauchen, um wahrhaft sicher zu sein.

Gleichzeitig legitimiert eine enge Beziehung mit Europa Amerikas globale Rolle und gibt ein klares Ziel. Sie schafft eine Gemeinschaft demokratischer Staaten, ohne die die Vereinigten Staaten in der Welt alleine stünden. Die Gemeinschaft zu erhalten, aufzuwerten und vor allem auch zu erweitern - um „die Segnungen der Freiheit für uns und unsere Nachkommen zu sichern" - muss daher Amerikas historisch wichtige Aufgabe bleiben.

Übersetzung Forum (MT)


Veröffentlichungen

- "Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft" - Fischer-TB.-Vlg., 1999.
- "The Grand Chessboard : American Primacy and Its Geostrategic Imperatives" - HarperCollins, October 1998.
- "Le grand échiquier. L'Amérique et le reste du monde" - Bayard (Document Temoignage), 1997.
- "The Geostrategic Triad : Living with China, Europe, and Russia" - Center for Strategic & Int'l Studies, 2000.
- "Out of Control : Global Turmoil on the Eve of the Twenty-First Century" - Collier Books, 1996.



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