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• Europas GASP braucht einen Motor
Bestünde unter den EU-Staaten der klare Wille, die wirtschaftlichen Ressourcen der EU, die politischen Abstimmungsmechanismen der GASP und die militärischen Potentiale der WEU-Mitglieder zur Krisenbeherrschung und Friedenswahrung einzusetzen, so wäre die Frage der institutionellen Leistungsfähigkeit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in Politik und Wissenschaft wohl kein Thema mehr. In der Regierungskonferenz zum Vertrag von Amsterdam war der schließlich erreichte Fortschritt Ergebnis zäher Verhandlungen - die Kosovo-Krise 1998/99 belegt, daß sein Inhalt schon vor Abschluß der Ratifikation überholt ist. © 1999
Dr. Josef JANNING - Stellvertretender Vorsitzender des Centrums für angewandte Politikforschung, München


Die Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union wird ein "Papiertiger" bleiben, solange zwei Annahmen nicht widerlegt sind: Zum einen die der deutschen Politik, es komme darauf an, ein institutionelles Gehäuse zu schaffen, zum anderen die der französischen Politik, die "sicherheitspolitische Identität" der Europäer befördere die Selbstbehauptung Frankreichs. Die erste Annahme verkennt, dass sich der vielbeschworene politische Wille auch im aufs Neue geschmückten Heim des Amsterdamer Vertrages nicht niederlassen will, die zweite Hypothese übersieht, dass Europa als weltpolitischer Akteur nicht aus der Aggregation von Interessen, sondern aus der Integration von Ressourcen entsteht.

Auch mit dem Vertrag von Amsterdam bleibt die GASP primär ein Instrument der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit. Ein Grossteil der in ihrem Rahmen betriebenen Politik ist weniger einer Aussenpolitik der EU zuzurechnen als der ihrer Mitglieder — GASP bedeutet zunächst und vor allem die Abstimmung der Aussenpolitik der Europäischen Staaten untereinander im Blick auf ihre Interessen an der Aussenwirkung der EU. In dieser Hinsicht lassen die Vertragsänderungen von Amsterdam eine Verbesserung erwarten: Erstmals werden mit dem Generalsekretär und der Planungszelle die Voraussetzungen für einen stärker an den Interessen der Union insgesamt orientierten Beratungs- und Entscheidungsprozess geschaffen. An die Stelle der nationalen Beratungsvorlagen, wie sie bisher vorherrschen, kann dann ein einziges Dossier treten, dessen Implementierung nicht mehr automatisch die einstimmige Zustimmung aller Mitgliedstaaten voraussetzt. Über den Weg einer "konstruktiven" Enthaltung kann eine Minderheit von Staaten Entscheidungen und damit das Handeln der EU zulassen, ohne ihnen selbst zustimmen zu müssen — und ohne sich an der Umsetzung selbst zu beteiligen.

Bestünde unter den EU-Staaten der klare Wille, die wirtschaftlichen Ressourcen der EU, die politischen Abstimmungsmechanismen der GASP und die militärischen Potentiale der WEU-Mitglieder zur Krisenbeherrschung und Friedenswahrung einzusetzen, so wäre die Frage der institutionellen Leistungsfähigkeit der Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik in Politik und Wissenschaft wohl kein Thema mehr. Sie bleibt es, solange dieser Wille fehlt, solange Fortschritte nur im Konsens erreichbar sind und solange der Ansatzpunkt von Integrationsfortschritten primär auf die Ausgestaltung des institutionellen Rahmens gelegt wird. Bis dahin bleibt europäische Aussen- und Sicherheitspolitik ein Glasperlenspiel: In der Regierungskonferenz zum Vertrag von Amsterdam war der schliesslich erreichte Fortschritt Ergebnis zäher Verhandlungen — die Kosovo-Krise 1998/99 belegt, dass sein Inhalt schon vor Abschluss der Ratifikation überholt ist: Die mangelnde Konsequenz des Vertrages, die Verschmelzung von WEU und EU, behindert die neue GASP, noch bevor nach ihren Regeln entschieden werden kann.

Ein anderes Europa agiert heute in einer anderen Welt, in der das Ende des grossen Systemkonflikts den Europäern nicht nur mehr Sicherheit und Einheit erlaubt, sondern neue Risiken und neue Handlungsfelder mit sich gebracht hat. Die politisch-strategische Nische, in der sich die Integration im Windschatten der Nachkriegsallianzen entwickeln konnte, existiert nicht mehr und die Welt nach dem Ost-West-Konflikt ist, was viele bedauern mögen, kein Spielplatz für Zivilmächte; ihre Gefahren sind nicht einmal allein mit den Instrumenten des "Handelsstaates" beherrschbar.

Die Europäische Union liegt in unruhiger Nachbarschaft — sie grenzt an zwei der hochsensiblen Zonen der Weltpolitik, und der blutigste ethnopolitische Konflikt des neuen Europa, die Auseinandersetzung um die Herrschaftsansprüche Serbiens, ragt wie ein Stachel in den Raum der künftigen grossen Europäischen Union der 25 plus X Mitglieder. Nach Osten reicht die EU schon heute an den von Russland dominierten Raum heran, dessen Entwicklungspfad auf viele Jahre nicht mit dem seiner westlichen Nachbarn übereinstimmen wird. Mit der Vollendung der Integration durch die Erweiterung wird diese EU von der Barents-See im hohen Norden bis zum Schwarzen Meer im Süden ohne Puffer oder neutrale Zonen an diesen Raum grenzen, und alle grenzüberschreitenden Aktivitäten, Konflikte und Entwicklungsunterschiede werden zu Themen der Europapolitik werden. Im Süden spricht vieles für eine weitere Verdichtung der politisch-sozialen Krise im nordafrikanischen Raum, da die Konfliktspirale aus Bevölkerungswachstum, Landflucht und Verstädterung, Erosion der schmalen fruchtbaren Küstenstreifen und einer verfehlten Industrialisierungspolitik von den meisten Staaten nicht umgedreht, sondern bestenfalls in ihren Auswirkungen begrenzt werden kann.

Parameter europäischer Sicherheitspolitik

Über der fortwirkenden Bedeutung der strategischen Ressourcen der Vereinigten Staaten bei Krisenerkennung und Krisenreaktion sowie in der Durchsetzung von Kriegsbeendigungskonzepten wird unter den heutigen Bedingungen die traditionelle Kernfunktion der Atlantischen Allianz für den westlichen Teil des Kontinents oft übersehen: Nach der Reduzierung des zuvor alles bestimmenden Konfliktmusters auf die Grösse einer Residualkategorie kann nicht länger verdrängt werden, dass die Europäer ihre territoriale Integrität und ihr politisches System selbst verteidigen können. Sie verfügen über knapp zwei Millionen Menschen unter Waffen, moderne Verteidigungstechnologien, hinreichende Nuklearkapazitäten für die sogenannte "minimal deterrence". In den letzten Jahren sind, wenn auch in verschiedenen strukturellen Kontexten, schnelle Eingreifkräfte, Krisenreaktionseinheiten aufgebaut worden. Entsprechende Kommunikations- und Kontrollstrukturen und eine eigene Aufklärungskapazität befinden sich in der Entwicklung, Ein grosses Lufttransportflugzeug und Luftbetankungskapazitäten sind zumindest in Planung. Das Bündnis mit den Vereinigten Staaten gewährleistet schliesslich ein Höchstmass an strategischer Reserve. Zusammengenommen hat damit die alte Einsicht, Europa sei zu seinem Schutz essentiell von den Vereinigten Staaten abhängig, ihre Plausibilität verloren. Künftig werden die Europäer den Basisfall der Sicherheitspolitik, die Verteidigung territorialer Integrität, aus eigenen Mitteln abdecken müssen.

Der Zerfall des Warschauer Paktes wirft eine weitere Frage auf, deren Beantwortung nicht — wie vor 1990 — prädefiniert ist: Die Frage, wer oder was künftig die Räume europäischer Sicherheit zusammenhalten werde, ist mit der Entscheidung der NATO zugunsten einer begrenzten ersten Erweiterung nicht beantwortet. Unter den Mitgliedstaaten ist die Erweiterung nicht prinzipiell geklärt und damit ist auch nicht entschieden, ob die NATO künftig in erster Linie als Instrument der Verteidigung zu verstehen ist (und damit ihre Erweiterung an den strategischen Mehrwert zu binden wäre) oder ob sie eine "Allianz der Demokratien" zwischen Europa und Nordamerika werden soll (die prinzipiell allen demokratischen Staaten dieses Raums offenstehen sollte).

Für die in EU und NATO gleichermassen engagierten europäischen Staaten steht zudem die Zukunft der Kompatibilität zwischen Bündnis und Integrationsraum in Frage. Die implizite Sicherheitszusage der EU-Mitgliedschaft durch supranationale Verflechtung, die Krieg unter Mitgliedstaaten als ausgeschlossen erscheinen lässt, korrespondiert bis heute mit der äusseren Schutzwirkung der NATO; einem EU-Mitglied den Zutritt zur Atlantischen Allianz zu verwehren, erscheint kaum denkbar. Mit der Osterweiterung der EU könnte eben dieser Fall eintreten: Eine sichtbare und glaubwürdige gemeinsame Verteidigungsanstrengung der westeuropäischen Staaten könnte dieses Patt überwinden, indem sie die Suche nach Sicherheit in Ostmitteleuropa zumindest zum Teil auffinge und indem sie ein günstigeres Ratifikationsklima für weitere Ergänzungen der NATO-Mitgliedschaft in den Vereinigten Staaten schüfe.

Sicherheit und Verteidigung stehen heute unter einem Effektivierungsdruck neuer Art. Zunächst einmal hat die politische Entwicklung die bisherige Dislozierungsstruktur weitgehend obsolet gemacht, doch noch immer findet sich eine hohe Konzentration von Truppen und Ausrüstungen entlang der alten Zentralfront in Mitteleuropa. Einer Verlegung an die südliche und östliche Peripherie stehen politische, historische und diplomatische Hindernisse entgegen.

Effizienzdruck erzeugen daneben die Finanzminister: Verteidigung hat in der Wahrnehmung der Öffentlichkeiten und der Parlamente nach dem Ende des Ost-West-Konflikts billiger auszufallen als zuvor. Gleichzeitig ein stehendes Heer mit grosser Mannstärke und moderner Ausrüstung zu unterhalten, strategische Abschreckungswaffen intakt und modern zu halten und die Ressourcen für Krisenreaktion, Friedensschaffung und Machtprojektion aufzubauen, überfordert selbst die Leistungsfähigkeit der grossen Staaten Westeuropas. In Frankreich hat dies zur Entscheidung zugunsten einer Berufsarmee geführt, die deutlich kleiner sein wird als die heutige Armee, aber — nach amerikanischem Vorbild — erheblich besser ausgerüstet sein dürfte. In Deutschland steht diese Entscheidung in den nächsten Jahren ebenfalls an; der budgetäre Spagat zwischen Ausrüstung der Bundeswehr, Finanzierung des Euro-Fighters und der Beteiligung am Aufklärungssatellitenprogramm Helios II spricht für diese Annahme. Der Effizienzgewinn derartiger Umstellungen wird jedoch begrenzt bleiben, solange keine konsequente Integration der Streitkräfte betrieben werden wird, die über die bisher praktizierten Formen der Zusammenarbeit hinausgeht. Gemeinsame Entwicklung und Beschaffung von militärischen Gütern dauert in den meisten Fällen länger und fällt teurer aus als der Einkauf vergleichbarer Güter in den Vereinigten Staaten. Der politischen Segmentierung mit ihrer juste retour-Praxis im Beschaffungsbereich entsprechen nationale Schranken für die Rüstungsindustrie. Sie ist ohnehin nur durch internationale Zusammenschlüsse überlebensfähig, damit allein aber nicht hinreichend wettbewerbsfähig. Unterschiedliche Beschaffungsregeln und nationale Rüstungsexportpolitiken behindern Skalenproduktion; politisch ausgehandelte Entwicklungsprogramme führen industrielle Partner zusammen, die unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten keine Kooperation suchen würden. Kostengünstige Produktion und Beschaffung würde wohl erst in einem gemeinsamen europäischen Rüstungsmarkt mit koordinierter Planung und gemeinsamer Beschaffung von Rüstungsgütern möglich — auch hier sind die wesentlichen Schranken politischer Natur: politische Segmentierung schützt wettbewerbsschwache, aber "nationale" Produzenten, begrenzt Arbeitsteilung und verhindert die Anwendung von Effizienzkriterien in der Beschaffung.

Verteidigungsintegration als Motor der GASP

Europa wird seine verteidigungstechnologische Basis "poolen" müssen oder es wird sie verlieren. Der dazu erforderliche politische Wille, dessen Fehlen so häufig beklagt wird, dürfte sich aus dem intergouvernementalen Zusammenwirken nicht ergeben — weder im Bereich der GASP noch in der WEU. Beiden Strukturen fehlt, nicht zuletzt im Zuge ihrer weiter wachsenden Mitgliederzahl, ein politisches Zentrum, ein integrierender Impuls. In Krisen hängt Europa ab vom Willen und der Fähigkeit einzelner Staaten, gemeinsam zu handeln, und von ihrer Bereitschaft, sich die strategischen Herausforderungen der europäischen Politik zu eigen zu machen.

An diesem Punkt könnte und sollte eine Integrationsinitiative im Bereich der GASP/WEU ansetzen. Analog zur Erfahrung mit der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion würde eine solche Initiative die auch im Vertrag von Amsterdam angelegte "Krönungsthese" umkehren: eine gemeinsame Verteidigung nicht als Endstufe, sondern eine Kerngemeinschaft als Ausgangspunkt, als Motor und Transmissionsriemen engerer Integration in diesem Bereich. Wie die gemeinsame Währung die Bildung einer Wirtschaftsunion antreiben wird, so könnte eine gemeinsame Verteidigung der wesentlichen Staaten die Vertiefung der GASP zu einer Sicherheitsunion befördern.

Angesichts der Vertragslage müsste sich diese Verteidigungsintegration auf einen eigenen , aber im Blick auf die EU/WEU geschlossenen Vertrag abstützen. Die Mitgliedschaft wäre an die Erfüllung bestimmter Kriterien zu binden: Fähigkeit und Bereitschaft zum Aufbau gemeinsamer Streitkräfte, Dislozierung im strategischen Interesse des Gesamtraums, eine gemeinsame Führungstruktur und politische Kontrolle, gemeinsame Entwicklung und Beschaffung von Rüstungsgütern, einheitliche Exportregeln und Schaffung eines Binnenmarktes für Rüstungsgüter. Die Initiative würde die Mitgliedschaft ihrer Teilnehmer in NATO und WEU bündeln (aktive und uneingeschränkte Teilnahme in beiden Organisationen wäre ebenso Voraussetzung zum Beitritt zur Verteidigungsunion), sie würde die Aufgabe der Territorialverteidigung, einschliesslich der nuklearen Abschreckung und die Steuerung von Krisenreaktionskräften übernehmen und gemeinsame Strukturen zur Aufklärung, zum Transport und zur Führung der militärischen Verbände schaffen.

Ihren natürlichen Ausgangspunkt fände eine solche Verteidigungsinitiative in den bi- und multilateralen Gemeinschaftsprojekten der letzten Jahre, im Eurocorps und den anderen Formen der Streitkräfteintegration, die sich unterhalb der NATO gebildet haben. Im Mittelpunkt würden Frankreich, Deutschland und die Benelux-Staaten stehen; Spanien und gegebenenfalls Italien würden sich anschliessen. Eine kritische Masse wäre jedoch erst mit der Teilnahme Grossbritanniens erreicht — eine britische Initiatorrolle erscheint dagegen praktisch ausgeschlossen. Kommt ein solcher Kern zustande, wird er GASP und WEU nachhaltig wandeln können. Kommt er nicht, so verpasst die europäische Politik eine Chance und riskiert die schleichende Aufladung der Sicherheitsagenda mit kritischen Themen, ohne auf ihre Bewältigung vorbereitet zu sein.


Veröffentlichungen (unter anderem…)

- Josef Janning, Charles Kupchan & Dirk Rumberg (Hrsg.), Civic Engagement in the Atlantic Community, Gütersloh : Bertelsmann Foundation Publishers 1999.
- Josef Janning, Patrick Meyer, Deutsche Europapolitik - Vorschläge zur Effektivierung, Gütersloh : Verlag Bertelsmann Stiftung 1998.
- Josef Janning u. Dirk Rumberg (Hrsg.), Peace and Stability in the Middle East and North Africa, Gütersloh 1996.
- Werner Weidenfeld, Josef Janning, Der Umbruch Europas : die Zukunft des Kontinents, Gütersloh 1990.



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