Die Gemeinsame
Aussen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union wird
ein "Papiertiger" bleiben, solange zwei Annahmen nicht
widerlegt sind: Zum einen die der deutschen Politik, es komme darauf
an, ein institutionelles Gehäuse zu schaffen, zum anderen die
der französischen Politik, die "sicherheitspolitische
Identität" der Europäer befördere die Selbstbehauptung
Frankreichs. Die erste Annahme verkennt, dass sich der vielbeschworene
politische Wille auch im aufs Neue geschmückten Heim des Amsterdamer
Vertrages nicht niederlassen will, die zweite Hypothese übersieht,
dass Europa als weltpolitischer Akteur nicht aus der Aggregation
von Interessen, sondern aus der Integration von Ressourcen entsteht.
Auch mit dem
Vertrag von Amsterdam bleibt die GASP primär ein Instrument
der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit. Ein Grossteil der in ihrem
Rahmen betriebenen Politik ist weniger einer Aussenpolitik der EU
zuzurechnen als der ihrer Mitglieder GASP bedeutet zunächst
und vor allem die Abstimmung der Aussenpolitik der Europäischen
Staaten untereinander im Blick auf ihre Interessen an der Aussenwirkung
der EU. In dieser Hinsicht lassen die Vertragsänderungen von
Amsterdam eine Verbesserung erwarten: Erstmals werden mit dem Generalsekretär
und der Planungszelle die Voraussetzungen für einen stärker
an den Interessen der Union insgesamt orientierten Beratungs- und
Entscheidungsprozess geschaffen. An die Stelle der nationalen Beratungsvorlagen,
wie sie bisher vorherrschen, kann dann ein einziges Dossier treten,
dessen Implementierung nicht mehr automatisch die einstimmige Zustimmung
aller Mitgliedstaaten voraussetzt. Über den Weg einer "konstruktiven"
Enthaltung kann eine Minderheit von Staaten Entscheidungen und damit
das Handeln der EU zulassen, ohne ihnen selbst zustimmen zu müssen
und ohne sich an der Umsetzung selbst zu beteiligen.
Bestünde
unter den EU-Staaten der klare Wille, die wirtschaftlichen Ressourcen
der EU, die politischen Abstimmungsmechanismen der GASP und die
militärischen Potentiale der WEU-Mitglieder zur Krisenbeherrschung
und Friedenswahrung einzusetzen, so wäre die Frage der institutionellen
Leistungsfähigkeit der Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik
in Politik und Wissenschaft wohl kein Thema mehr. Sie bleibt es,
solange dieser Wille fehlt, solange Fortschritte nur im Konsens
erreichbar sind und solange der Ansatzpunkt von Integrationsfortschritten
primär auf die Ausgestaltung des institutionellen Rahmens gelegt
wird. Bis dahin bleibt europäische Aussen- und Sicherheitspolitik
ein Glasperlenspiel: In der Regierungskonferenz zum Vertrag von
Amsterdam war der schliesslich erreichte Fortschritt Ergebnis zäher
Verhandlungen die Kosovo-Krise 1998/99 belegt, dass sein
Inhalt schon vor Abschluss der Ratifikation überholt ist: Die
mangelnde Konsequenz des Vertrages, die Verschmelzung von WEU und
EU, behindert die neue GASP, noch bevor nach ihren Regeln entschieden
werden kann.
Ein anderes
Europa agiert heute in einer anderen Welt, in der das Ende des grossen
Systemkonflikts den Europäern nicht nur mehr Sicherheit und
Einheit erlaubt, sondern neue Risiken und neue Handlungsfelder mit
sich gebracht hat. Die politisch-strategische Nische, in der sich
die Integration im Windschatten der Nachkriegsallianzen entwickeln
konnte, existiert nicht mehr und die Welt nach dem Ost-West-Konflikt
ist, was viele bedauern mögen, kein Spielplatz für Zivilmächte;
ihre Gefahren sind nicht einmal allein mit den Instrumenten des
"Handelsstaates" beherrschbar.
Die Europäische
Union liegt in unruhiger Nachbarschaft sie grenzt an zwei
der hochsensiblen Zonen der Weltpolitik, und der blutigste ethnopolitische
Konflikt des neuen Europa, die Auseinandersetzung um die Herrschaftsansprüche
Serbiens, ragt wie ein Stachel in den Raum der künftigen grossen
Europäischen Union der 25 plus X Mitglieder. Nach Osten reicht
die EU schon heute an den von Russland dominierten Raum heran, dessen
Entwicklungspfad auf viele Jahre nicht mit dem seiner westlichen
Nachbarn übereinstimmen wird. Mit der Vollendung der Integration
durch die Erweiterung wird diese EU von der Barents-See im hohen
Norden bis zum Schwarzen Meer im Süden ohne Puffer oder neutrale
Zonen an diesen Raum grenzen, und alle grenzüberschreitenden
Aktivitäten, Konflikte und Entwicklungsunterschiede werden
zu Themen der Europapolitik werden. Im Süden spricht vieles
für eine weitere Verdichtung der politisch-sozialen Krise im
nordafrikanischen Raum, da die Konfliktspirale aus Bevölkerungswachstum,
Landflucht und Verstädterung, Erosion der schmalen fruchtbaren
Küstenstreifen und einer verfehlten Industrialisierungspolitik
von den meisten Staaten nicht umgedreht, sondern bestenfalls in
ihren Auswirkungen begrenzt werden kann.
Parameter
europäischer Sicherheitspolitik
Über der
fortwirkenden Bedeutung der strategischen Ressourcen der Vereinigten
Staaten bei Krisenerkennung und Krisenreaktion sowie in der Durchsetzung
von Kriegsbeendigungskonzepten wird unter den heutigen Bedingungen
die traditionelle Kernfunktion der Atlantischen Allianz für
den westlichen Teil des Kontinents oft übersehen: Nach der
Reduzierung des zuvor alles bestimmenden Konfliktmusters auf die
Grösse einer Residualkategorie kann nicht länger verdrängt
werden, dass die Europäer ihre territoriale Integrität
und ihr politisches System selbst verteidigen können. Sie verfügen
über knapp zwei Millionen Menschen unter Waffen, moderne Verteidigungstechnologien,
hinreichende Nuklearkapazitäten für die sogenannte "minimal
deterrence". In den letzten Jahren sind, wenn auch in verschiedenen
strukturellen Kontexten, schnelle Eingreifkräfte, Krisenreaktionseinheiten
aufgebaut worden. Entsprechende Kommunikations- und Kontrollstrukturen
und eine eigene Aufklärungskapazität befinden sich in
der Entwicklung, Ein grosses Lufttransportflugzeug und Luftbetankungskapazitäten
sind zumindest in Planung. Das Bündnis mit den Vereinigten
Staaten gewährleistet schliesslich ein Höchstmass an strategischer
Reserve. Zusammengenommen hat damit die alte Einsicht, Europa sei
zu seinem Schutz essentiell von den Vereinigten Staaten abhängig,
ihre Plausibilität verloren. Künftig werden die Europäer
den Basisfall der Sicherheitspolitik, die Verteidigung territorialer
Integrität, aus eigenen Mitteln abdecken müssen.
Der Zerfall
des Warschauer Paktes wirft eine weitere Frage auf, deren Beantwortung
nicht wie vor 1990 prädefiniert ist: Die Frage,
wer oder was künftig die Räume europäischer Sicherheit
zusammenhalten werde, ist mit der Entscheidung der NATO zugunsten
einer begrenzten ersten Erweiterung nicht beantwortet. Unter den
Mitgliedstaaten ist die Erweiterung nicht prinzipiell geklärt
und damit ist auch nicht entschieden, ob die NATO künftig in
erster Linie als Instrument der Verteidigung zu verstehen ist (und
damit ihre Erweiterung an den strategischen Mehrwert zu binden wäre)
oder ob sie eine "Allianz der Demokratien" zwischen Europa
und Nordamerika werden soll (die prinzipiell allen demokratischen
Staaten dieses Raums offenstehen sollte).
Für die
in EU und NATO gleichermassen engagierten europäischen Staaten
steht zudem die Zukunft der Kompatibilität zwischen Bündnis
und Integrationsraum in Frage. Die implizite Sicherheitszusage der
EU-Mitgliedschaft durch supranationale Verflechtung, die Krieg unter
Mitgliedstaaten als ausgeschlossen erscheinen lässt, korrespondiert
bis heute mit der äusseren Schutzwirkung der NATO; einem EU-Mitglied
den Zutritt zur Atlantischen Allianz zu verwehren, erscheint kaum
denkbar. Mit der Osterweiterung der EU könnte eben dieser Fall
eintreten: Eine sichtbare und glaubwürdige gemeinsame Verteidigungsanstrengung
der westeuropäischen Staaten könnte dieses Patt überwinden,
indem sie die Suche nach Sicherheit in Ostmitteleuropa zumindest
zum Teil auffinge und indem sie ein günstigeres Ratifikationsklima
für weitere Ergänzungen der NATO-Mitgliedschaft in den
Vereinigten Staaten schüfe.
Sicherheit
und Verteidigung stehen heute unter einem Effektivierungsdruck neuer
Art. Zunächst einmal hat die politische Entwicklung die bisherige
Dislozierungsstruktur weitgehend obsolet gemacht, doch noch immer
findet sich eine hohe Konzentration von Truppen und Ausrüstungen
entlang der alten Zentralfront in Mitteleuropa. Einer Verlegung
an die südliche und östliche Peripherie stehen politische,
historische und diplomatische Hindernisse entgegen.
Effizienzdruck
erzeugen daneben die Finanzminister: Verteidigung hat in der Wahrnehmung
der Öffentlichkeiten und der Parlamente nach dem Ende des Ost-West-Konflikts
billiger auszufallen als zuvor. Gleichzeitig ein stehendes Heer
mit grosser Mannstärke und moderner Ausrüstung zu unterhalten,
strategische Abschreckungswaffen intakt und modern zu halten und
die Ressourcen für Krisenreaktion, Friedensschaffung und Machtprojektion
aufzubauen, überfordert selbst die Leistungsfähigkeit
der grossen Staaten Westeuropas. In Frankreich hat dies zur Entscheidung
zugunsten einer Berufsarmee geführt, die deutlich kleiner sein
wird als die heutige Armee, aber nach amerikanischem Vorbild
erheblich besser ausgerüstet sein dürfte. In Deutschland
steht diese Entscheidung in den nächsten Jahren ebenfalls an;
der budgetäre Spagat zwischen Ausrüstung der Bundeswehr,
Finanzierung des Euro-Fighters und der Beteiligung am Aufklärungssatellitenprogramm
Helios II spricht für diese Annahme. Der Effizienzgewinn derartiger
Umstellungen wird jedoch begrenzt bleiben, solange keine konsequente
Integration der Streitkräfte betrieben werden wird, die über
die bisher praktizierten Formen der Zusammenarbeit hinausgeht. Gemeinsame
Entwicklung und Beschaffung von militärischen Gütern dauert
in den meisten Fällen länger und fällt teurer aus
als der Einkauf vergleichbarer Güter in den Vereinigten Staaten.
Der politischen Segmentierung mit ihrer juste retour-Praxis im Beschaffungsbereich
entsprechen nationale Schranken für die Rüstungsindustrie.
Sie ist ohnehin nur durch internationale Zusammenschlüsse überlebensfähig,
damit allein aber nicht hinreichend wettbewerbsfähig. Unterschiedliche
Beschaffungsregeln und nationale Rüstungsexportpolitiken behindern
Skalenproduktion; politisch ausgehandelte Entwicklungsprogramme
führen industrielle Partner zusammen, die unter betriebswirtschaftlichen
Gesichtspunkten keine Kooperation suchen würden. Kostengünstige
Produktion und Beschaffung würde wohl erst in einem gemeinsamen
europäischen Rüstungsmarkt mit koordinierter Planung und
gemeinsamer Beschaffung von Rüstungsgütern möglich
auch hier sind die wesentlichen Schranken politischer Natur:
politische Segmentierung schützt wettbewerbsschwache, aber
"nationale" Produzenten, begrenzt Arbeitsteilung und verhindert
die Anwendung von Effizienzkriterien in der Beschaffung.
Verteidigungsintegration
als Motor der GASP
Europa wird
seine verteidigungstechnologische Basis "poolen" müssen
oder es wird sie verlieren. Der dazu erforderliche politische Wille,
dessen Fehlen so häufig beklagt wird, dürfte sich aus
dem intergouvernementalen Zusammenwirken nicht ergeben weder
im Bereich der GASP noch in der WEU. Beiden Strukturen fehlt, nicht
zuletzt im Zuge ihrer weiter wachsenden Mitgliederzahl, ein politisches
Zentrum, ein integrierender Impuls. In Krisen hängt Europa
ab vom Willen und der Fähigkeit einzelner Staaten, gemeinsam
zu handeln, und von ihrer Bereitschaft, sich die strategischen Herausforderungen
der europäischen Politik zu eigen zu machen.
An diesem Punkt
könnte und sollte eine Integrationsinitiative im Bereich der
GASP/WEU ansetzen. Analog zur Erfahrung mit der Europäischen
Wirtschafts- und Währungsunion würde eine solche Initiative
die auch im Vertrag von Amsterdam angelegte "Krönungsthese"
umkehren: eine gemeinsame Verteidigung nicht als Endstufe, sondern
eine Kerngemeinschaft als Ausgangspunkt, als Motor und Transmissionsriemen
engerer Integration in diesem Bereich. Wie die gemeinsame Währung
die Bildung einer Wirtschaftsunion antreiben wird, so könnte
eine gemeinsame Verteidigung der wesentlichen Staaten die Vertiefung
der GASP zu einer Sicherheitsunion befördern.
Angesichts
der Vertragslage müsste sich diese Verteidigungsintegration
auf einen eigenen , aber im Blick auf die EU/WEU geschlossenen Vertrag
abstützen. Die Mitgliedschaft wäre an die Erfüllung
bestimmter Kriterien zu binden: Fähigkeit und Bereitschaft
zum Aufbau gemeinsamer Streitkräfte, Dislozierung im strategischen
Interesse des Gesamtraums, eine gemeinsame Führungstruktur
und politische Kontrolle, gemeinsame Entwicklung und Beschaffung
von Rüstungsgütern, einheitliche Exportregeln und Schaffung
eines Binnenmarktes für Rüstungsgüter. Die Initiative
würde die Mitgliedschaft ihrer Teilnehmer in NATO und WEU bündeln
(aktive und uneingeschränkte Teilnahme in beiden Organisationen
wäre ebenso Voraussetzung zum Beitritt zur Verteidigungsunion),
sie würde die Aufgabe der Territorialverteidigung, einschliesslich
der nuklearen Abschreckung und die Steuerung von Krisenreaktionskräften
übernehmen und gemeinsame Strukturen zur Aufklärung, zum
Transport und zur Führung der militärischen Verbände
schaffen.
Ihren natürlichen
Ausgangspunkt fände eine solche Verteidigungsinitiative in
den bi- und multilateralen Gemeinschaftsprojekten der letzten Jahre,
im Eurocorps und den anderen Formen der Streitkräfteintegration,
die sich unterhalb der NATO gebildet haben. Im Mittelpunkt würden
Frankreich, Deutschland und die Benelux-Staaten stehen; Spanien
und gegebenenfalls Italien würden sich anschliessen. Eine kritische
Masse wäre jedoch erst mit der Teilnahme Grossbritanniens erreicht
eine britische Initiatorrolle erscheint dagegen praktisch
ausgeschlossen. Kommt ein solcher Kern zustande, wird er GASP und
WEU nachhaltig wandeln können. Kommt er nicht, so verpasst
die europäische Politik eine Chance und riskiert die schleichende
Aufladung der Sicherheitsagenda mit kritischen Themen, ohne auf
ihre Bewältigung vorbereitet zu sein.
Veröffentlichungen
(unter anderem…)
- Josef Janning, Charles Kupchan & Dirk Rumberg (Hrsg.), Civic
Engagement in the Atlantic Community, Gütersloh : Bertelsmann
Foundation Publishers 1999.
- Josef Janning, Patrick Meyer, Deutsche Europapolitik - Vorschläge
zur Effektivierung, Gütersloh : Verlag Bertelsmann Stiftung
1998.
- Josef Janning u. Dirk Rumberg (Hrsg.), Peace and Stability
in the Middle East and North Africa, Gütersloh 1996.
- Werner Weidenfeld, Josef Janning, Der Umbruch Europas : die
Zukunft des Kontinents, Gütersloh 1990.
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