Seit dem Fall
der Mauer hat sich das Verständnis von Sicherheit stark gewandelt.
Sicherheit ist zu einem facettenreichen Begriff geworden. Während
der Kalte Krieg noch die militärische Bipolarität als
Ausdruck des Kräfteverhältnisses in der Welt begründet
hat, hat heute die Sicherheitsfrage ganz andere Dimensionen gewonnen.
Eine harmonische wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den
verschiedenen Regionen unseres Planeten, die Eindämmung der
Einwanderungsströme, die Bewahrung der Umwelt und die Achtung
des ökologischen Gleichgewichts sind zu Bestandteilen dieses
neuen Sicherheitskonzepts geworden, dessen Konturen weniger scharf
umrissen sind und das auch schwieriger zu handhaben ist.
"Das Gleichgewicht
des Schreckens", das während des Kalten Krieges noch bestimmend
war, ist von zahlreichen Konflikten "niedriger Intensität"
abgelöst worden, die sehr unterschiedliche Ursachen haben,
und es hat auch hinsichtlich einer Verbreitung von Atomwaffen, drohender
ethnischer und religiöser Konflikte, Terrorismus und der international
organisierten Kriminalität das Gefahrenpotential erhöht.
In dieser Hinsicht
ist es offensichtlich, dass die Erweiterung der Europäischen
Union zu den mittel- und osteuropäischen Ländern hin einen
positiven Einfluss auf die Sicherheit in Europa haben könnte.
- Wenn die
MOE-Staaten an die Fünfzehnergemeinschaft - eines der weltweit
demokratischsten, am besten integrierten und wohlhabendsten Regionalgefüge
- angebunden werden, werden die jungen Demokratien im Osten ihr
Wirtschafts- und Sozialniveau im Laufe der nächsten Jahren
verbessern. Ein in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht reicheres
Osteuropa, das den Menschenrechten und den Minderheiten mit grösserer
Achtung begegnet, wird für ganz Europa einen Stabilitätsfaktor
darstellen.
- Durch die
Erweiterung dürfte eine gedankliche Öffnung begünstigt
werden. Die uneingeschränkte Bewegungsmöglichkeit von
Menschen zwischen den MOE-Staaten nach deren Beitritt und den Ländern
der Europäischen Union fördert den Austausch, die Kooperation,
die Kommunikation und damit letztlich das Vertrauen zwischen den
Bürgern in Europa. Dadurch können alte Wunden besser verheilen
(so wie es beispielsweise zwischen Deutschland und Frankreich der
Fall war).
- Eine erfolgreiche
Osterweiterung könnte einen positiven Einfluss auf die Länder
haben, die an den Aussengrenzen der so erweiterten Union liegen
(Russland, Ukraine, Weissrussland, Türkei). Die politische
und wirtschaftliche Konsolidierung der MOE-Staaten könnte als
politisches Modell wirken; die MOE-Staaten könnten sich für
die Länder der GUS und Transkaukasiens zu einem wirtschaftlichen
Anziehungspunkt entwickeln. Mittelfristig könnte somit also
eine wirtschaftliche Entwicklung der MOE-Staaten zum wirtschaftlichen
take-off der Nachbarländer Anstoss geben, die von dem Handel
und den Investitionen aus den Ländern mit starkem Wirtschaftswachstum
profitieren könnten.
- Selbst wenn
es östlich des Bugs - der Grenze zwischen Polen auf der einen
und Russland und Weissrussland auf der anderen Seite - zu einem
Szenario politischer Instabilität kommen sollte, so würde
doch ein geeintes Europa besser mit den daraus entstehenden Risiken
und Gefahren fertig werden.
- Der Beitritt
zur Europäischen Union wird auf der innerstaatlichen Ebene
der MOE-Staaten sicherlich eine stabilisierende Wirkung haben, würde
er doch die Konsolidierung der Demokratie und der Bedeutung der
Zivilgesellschaft stärken, vor allem auch der Mittelschicht,
die bisher noch sehr schwach ist.
- Die Anhebung
des Lebensstandards der Bürger in den Bewerberländern
im Osten würde gleichfalls einen mächtigen Hebel zur Abschwächung,
ja zur Lösung der Minderheitenkonflikte darstellen. Die vor
kurzem gemachte Erfahrung mit dem Friedensprozess in Irland lehrt,
wie sehr der wirtschaftliche Aufholprozess in einem Land oder in
einer Region den Frieden und die Aussöhnung zwischen den Völkern
begünstigen kann. Diesbezüglich hat sich der "Ankündigungseffekt"
durch die Bekanntgabe der Osterweiterung der Europäischen Union
dahingehend als wirksam erwiesen, als er einige östliche Staaten
auf den Weg zur Verständigung mit ihren Nachbarn geführt
hat (Ungarn/Rumänien - Ungarn/Slowakei)
Im übrigen
muss daran erinnert werden, dass die Europäische Union für
einen Beitritt die Lösung bilateraler Zwistigkeiten und die
Anrufung des Internationalen Gerichtshofs als Vorbedingung stellt.
Dadurch werden die Beitrittskandidaten zur Suche nach einer schnellen
Lösung veranlasst, falls eine solche noch nicht gefunden ist.
Nach dem Beitritt steht zu hoffen, dass die potentiellen Streitfälle,
die heute noch Nachbarländer entzweien, mittels einem bekannten
und in der Europäischen Union bewährten Instrumentarium
und einer Praxis der Konzertierung mit grösster Wahrscheinlichkeit
gelöst werden können. Die Erweiterung kann somit also
zu einer Lehre für Kompromissfindung und Toleranz werden.
- Und schliesslich
ist es offensichtlich, dass die Bewahrung der Umwelt und der Kampf
gegen die organisierte Kriminalität über die tatsächlichen
Möglichkeiten der Nationalstaaten hinausgehen. Dies sind gesellschaftliche
Phänomene, die sich nicht um Grenzen scheren. Europa ist -
nicht ohne Schwierigkeiten - im Begriff, eine gemeinsame Umweltpolitik
aufzubauen. Zu einer effizienten Gewährleistung der persönlichen
Sicherheit der europäischen Bürger in allen Lebensbereichen
möchte man auch einen gemeinsamen Rechts- und Strafverfolgungsraum
einrichten. Ein koordinierter rechtlicher Ansatz bei der Behandlung
von Bürgern aus Drittstaaten erweist sich für eine Kontrolle
der Einwanderungsströme als unabdingbar.
- Bleibt die
militärische Komponente der Sicherheitsfrage in Europa. Zwar
fällt die Verteidigung auch weiterhin in einen im wesentlichen
nationalen Kompetenzbereich, andererseits ist es aber nichtsdestotrotz
das im Amsterdamer Vertrag festgehaltene Ziel, langfristig eine
gemeinsame Verteidigungspolitik zu "definieren" und dazu
die Strukturen der WEU in der Europäischen Union aufgehen zu
lassen. Die vor kurzem erfolgte französisch-britische Erklärung
von Saint-Malo zur europäischen Verteidigung zeichnet neue
Perspektiven, welche die schon vor langem begonnenen Bemühungen
um eine europäische Verteidigungspolitik zu einem erfolgreichen
Abschluss führen könnten. Mit der Anerkennung der Errungenschaften
der Gemeinschaft in den Bereichen der GASP- und der Verteidigungspolitik
werden die künftigen Mitgliedstaaten sich diese politischen
Ziele zu eigen machen, und so können sie selbst zur Stärkung
ihrer Verteidigungsfähigkeit und damit auch zur Stärkung
der Verteidigungsfähigkeit der Europäischen Union im Ganzen
beitragen.
Der wirtschaftliche
Erfolg der Erweiterung ist eine zentrale Vorbedingung dafür,
dass der von den Bewerberstaaten zu erbringende finanzielle Aufwand
für die Modernisierung ihrer Streitkräfte (eine für
den Beitritt zur NATO notwendige Modernisierung) die nationalen
Haushalte nicht allzu sehr belastet.
* * *
Wenn die Sicherheit
in Europa sich folglich aus der Kombination von zwei Erweiterungsprozessen
einerseits der NATO, andererseits der EU ergibt, dann ist es wohl
offensichtlich, dass vor allem letzterer dem Kontinent am ehesten
zu einer tatsächlichen politischen Stabilität verhelfen
kann.
Die Erweiterung
der Europäischen Union ermöglicht nicht allein eine Erhöhung
des Wohlstands aller Beteiligten, sondern sie fördert auch
die Herausbildung von wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen
und politischen Bindungen, welche die Basis für ein tägliches
und dauerhaftes gemeinschaftliches Leben sind.
Diese grossartige
Annäherungs- und Integrationsbewegung muss so erfolgen, dass
eine Gefahr, die nicht vergessen werden darf, vermieden wird: die
Gefahr, eine neue Barriere zwischen der so erweiterten Europäischen
Union und den nicht dazu gehörenden Ländern, z.B. Russland,
zu errichten. Eine erfolgreiche Erweiterung der Union nach Mittel-
und Osteuropa ist gut für die Sicherheit, unter der Bedingung,
es wird dafür Sorge getragen, dass - im Osten genauso wie im
Mittelmeerraum - möglichst feste partnerschaftliche Bindungen
zu den Nachbarländern entstehen. Sicherheit ist nur durch eine
Öffnung anderen gegenüber von Dauer.
Eigene
Übersetzung des Forum
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