Deutschland
hat die Verantwortung für die Präsidentschaft der WEU
und der Europäischen Union inne: Das ist das erste Mal, das
es zu einer solchen zufälligen Fügung kommt. Während
dieser Präsidentschaft wünscht Deutschland, wie sich kürzlich
der Staatssekretär des Auswärtigen Amts, Verheugen, vor
unserer zur Plenarsitzung zusammengekommenen Versammlung äusserte,
die Diskussion über die europäische Identität in
Verteidigungs- und Sicherheitsfragen voranzutreiben, und das zu
einem Zeitpunkt, wo die Debatte besonders hitzig geführt wird.
Das Instrumentarium
der Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts zur Friedens- und Stabilitätssicherung
ist veraltet: Das lässt sich in Ex-Jugoslawien konstatieren,
wo das Integrationskonzept und das Konzept des Nationalismus aus
dem vergangenen Jahrhundert aufeinander prallen. Stabilität
kann nicht länger mittels des Spiels eines prekären Mächtegleichgewichts
erzielt werden; dagegen bieten Kooperation und Bündnisse die
wirkungsvollsten Garantien gegen eine Wiederkehr des Chauvinismus.
Europa wird
es nur gelingen, den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu begegnen,
wenn es mit einer Stimme spricht; es muss somit also klare Zielvorstellungen
in aussenpolitischen Fragen haben und seine Interessen zu vertreten
verstehen. De facto braucht Europa eine wirkliche Aussenpolitik
und eine wirkliche Sicherheitspolitik; nur eine Union, die ihre
Interessen zu verteidigen versteht, wird mit ihren inneren Krisen
fertig werden können. In diesem Bewusstsein sollte sie das
ausgesprochen wichtige Treffen bei dem NATO-Gipfel in Washington
angehen.
Die NATO gewährleistet
die Sicherheit Europas heute und in Zukunft. Die transatlantische
Partnerschaft ist grundlegend für die Sicherung eines dauerhaften
Friedens auf dem Kontinent. Der Gipfel zum 50jährigen Bestehen
im April von ist dem Beitritt Polens, der Tschechischen Republik
und Ungarns bestimmt worden, und so wird das Europa der Blöcke
endgültig zu Ende gehen. Dieser Gipfel bietet der Allianz auch
die Möglichkeit, ihre Vitalität und ihre Anpassungsfähigkeit
unter Beweis zu stellen. Das Ziel des neuen Strategiekonzepts besteht
darin, zu einer kollektiven Verteidigung und gemeinsamen transatlantischen
Willenserklärung zu gelangen. Die NATO wird in enger Zusammenarbeit
mit allen Ländern Europas neue Aufgaben annehmen müssen,
vor allem im Rahmen der Konfliktvorbeugung, des Krisenmanagements
und der Rüstungskontrolle.
In diesem Bewusstsein
ist unsere Versammlung im März zusammengetreten, einen Monat
vor dem Washingtoner Gipfel, um die Regierungen der Länder
der WEU von unserer Ansicht hinsichtlich der Zukunft der europäischen
Verteidigung in Kenntnis zu setzen. So mancher meint, dass die WEU
in der Europäischen Union aufgehen solle. Ich persönlich
könnte mich - das ist eine persönliche politische Meinung
- mit einem Integrationsprozess in die Europäische Union anfreunden.
Wichtig ist aber, dass darüber diskutiert wird und dass man
sieht, welches die angemessensten Formen sind, die auf einen wahren
Konsens stossen würden, und auch welches die Möglichkeiten
der verschiedenen Optionen sind, die zwar von der Presse angeführt
werden, die aber noch keine konkreten Vorschläge darstellen.
Bei der WEU
handelt es sich um einen bedeutenden Gewinn, der sich nicht von
dem einen Tag auf den anderen auslöschen lässt. So muss
bei all den Debatten wieder daran erinnert werden, dass sie gewisse
Vorzüge bietet, dass sie vor allem auch über militärische
Kapazitäten verfügt, die ihr die Durchführung von
sogenannten Petersberg-Missionen ermöglichen, die sowohl humanitäre
Hilfe als auch Prävention und friedenschaffende Massnahmen
umfassen, ja sogar Kampfhandlungen, und auch daran erinnern, dass
sie 28 Länder vereinigt, die unterschiedliche Status geniessen.
Ich glaube nicht, dass sich eine Verdichtung der europäischen
Verteidigung mit dem Zentrum Europäische Union in Betracht
ziehen lässt, ohne der Tatsache Rechnung zu tragen, dass mehrere
mittel- und osteuropäische Länder dank unserer Institution
an einer Organisierung europäischer Verteidigung teilhaben.
Es darf auch daran erinnert werden, dass die WEU nach dem Amsterdamer
Vertrag ohne weiteres im Auftrag der Europäischen Union Einsätze
führen kann und dass, wenn die Kooperationsmechanismen mit
der NATO zu einem Ergebnis führen, die WEU auf deren Kapazitäten
zurückgreifen kann. Es darf auch nicht übersehen werden,
dass die WEU ausserhalb des Gebiets einsatzbereit ist und dass sie
als einzige Institution in diesem Bereich die Politik für Rüstungsfragen
in Europa koordiniert. Und schliesslich ist auch daran zu erinnern,
dass die WEU unter demokratischer Kontrolle unserer Versammlung
- in Verbindung mit den Landesparlamenten - tätig wird, dass
im Laufe der letzten Jahre dem operationellen Instrumentarium nachhaltige
Investitionen zugeflossen sind, dass sie über ein strategisches
Militärpotential verfügt, dass sie mit einem Bein in der
EU und mit dem anderen in der NATO steht, wodurch sie indirekt die
beiden Institutionen miteinander verbindet, und dass sie ausserdem
enge Verbindungen zu Russland und der Ukraine unterhält.
In diesem Prozess,
der gerade erst einen neuen Anstoss erfahren hat, akzeptiert die
Versammlung jeden Fortschritt im Bereich der europäischen Verteidigung,
d.h. jede Entscheidung, die sich auf ein Mehr an Europa und ein
Mehr an Sicherheitsgarantien für Europa zubewegt. Durch ihr
50jähriges Bestehen repräsentiert die WEU einen beträchtlichen
Erfolg, der sich u.a. von dem modifizierten Brüsseler Vertrag,
von seinem Artikel 5 und der gesamten Arbeit der Institution ableitet.
Es gibt reelle Ängste in bezug auf die Zukunft der Partnerländer
und assoziierten Mitglieder, die bereits am Alltag der Organisation
teilhaben.
Wir sind stolz
auf das Erreichte, und wir fordern die europäischen Regierungen
dazu auf, dass dem - egal bei welcher Entscheidung - Rechnung getragen
wird. Wir werden unsere Institution niemals zu einem korporatistischen
Verteidigungsobjekt machen, aber wir werden für dessen politische
Substanz eintreten.
Mit anderen
Worten: Unsere Zielsetzung geht nicht zugunsten dieses oder jenes
Institutionenvorschlags und auch nicht zugunsten eines Aufgehens
der WEU in der Europäischen Union. Es gibt mehrere Möglichkeiten,
die europäische Verteidigung zu verstärken, ohne notwendigerweise
den Umweg über einen Integrationsprozess zu nehmen. Unser Ziel
ist in jedem Fall die Stärkung der europäischen Verteidigung.
Wenn so entschieden werden sollte, wenn der politische Wille zum
Aufbau eines autonomen Gefüges - im Rahmen der Petersberg-Missionen
beispielsweise - besteht, dann lässt sich der Frage nachgehen,
was die beste institutionelle Lösung dafür ist. Aber man
möge nicht die Ziele mit den Mitteln verwechseln, das wäre
die schlimmste aller Lösungen.
Eigene
Übersetzung des Forum
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