In diesem Jahrhundert,
das nunmehr seinem Ende entgegengeht, gewinnen langsam neue Gegebenheiten
an Gestalt. Das Tagesgeschehen erinnert uns jeden Tag aufs Neue
an das, was wir in den Bereichen Wirtschaft, Recht und Währung
bereits erreicht haben.
Über dieses
Tagesgeschehen hinaus spüren wir, wie sich unsere Mitbürger
allmählich an ein Leben in Europa und an ein Denken als Europäer
gewöhnen. Diese verschiedenen Entwicklungen und Erfolge, die
ich als Fortschritt bezeichnen möchte, stellen uns nun erneut
vor eine Herausforderung: Unseren Nationen ist es in den vergangenen
Jahrzehnten nicht gelungen, sich eben dieser Herausforderung zu
stellen, unsere Werte auch in einer Aussen- und Verteidigungspolitik
aufgehen zu lassen.
So hat sich
unsere Arbeit nunmehr auf den Bereich Sicherheit und Verteidigung
zu richten.
Die Europäer
haben sich in den frühen 50er Jahren dazu entschlossen, sich
zwecks einer militärischen Umsetzung der in Artikel V des modifizierten
Vertrags von Brüssel verankerten kollektiven Sicherheit der
NATO anzuschliessen. Mit dieser Entscheidung wurde billigend hingenommen,
ja wurde erst die Voraussetzung dafür geschaffen, dass eine
nicht unbedeutende Zahl amerikanischer Truppenverbände dauerhaft
auf unserem Boden stationiert würde. Die Lösung der Krisen,
von denen unser Kontinent während des Kalten Krieges betroffen
war, hat den zentralen Einfluss der amerikanischen Streitkräfte
deutlich zutage treten lassen. In den letzten zehn Jahren haben
neue Formen der Spannungs- und Krisensituationen erneut die Stärke
der europäisch-atlantischen Partnerschaft unter Beweis gestellt.
Die Sicherheit
in Europa hat der NATO viel zu verdanken, und die Vereinigten Staaten
bleiben in dieser Hinsicht auch weiterhin ein zentraler Akteur.
Aber gerade angesichts der Fortschritte Europas und seines gewachsenen
Einflusses in den globalen Debatten bei Finanz-, Währungs-,
Handels- und Wissenschaftsfragen sowie auch in diplomatischer Hinsicht
scheint es ratsam, dass es von sich aus mehr Veranwortung für
seine eigene Sicherheit übernimmt, vor allem auch angesichts
der Bedrohungen und Gefahren, die von unzweifelhaft regionalem Charakter
sind.
Ausserdem ist
bekannt, wie stark der Entscheidungsfindungsprozess in den Vereinigten
Staaten auf einem fragilen Ausgleichs- und Balancemechanismus beruht,
und auch, dass im Kongress bisweilen Stimmen laut werden, die die
riskanten Einsätze in fernen Krisenregionen lieber vermieden
sähen. Die schwere Verantwortungslast, sich als alleinige Supermacht
derart vielen Herausforderungen stellen zu müssen, kann dies
unterschwellige Zögern nur noch verstärken.
Wir haben unsererseits
auch Fortschritte gemacht, die sich noch weiterführen lassen.
Ich denke an die Weiterentwicklungen von Maastricht und Amsterdam
und auch an die von Saint-Malo am 4. Dezember 1998. Die doppelte
Präsidentschaft Deutschlands sowohl der EU als auch der WEU
im ersten Halbjahr 1999 lässt auf eine solide und konzertierte
Fortentwicklung hoffen.
In der Atlantischen
Allianz hat der Begriff der ESVI (Europäische Sicherheits-
und Verteidigungsidentität) an Geltung gewonnen.
Der Europäischen
Union, die früher oder später die Kapazitäten und
die Aufgaben der WEU übernehmen muss, ist in Zukunft ohne Frage
eine bedeutendere Rolle beschieden.
Der Europäische
Rat, der sich aus den gewählten Staats- und Regierungschefs
in Europa zusammensetzt, ist das politische Legitimitätszentrum,
dem auch die sicherheitspolitischen Interventionskapazitäten
zugeteilt werden können, um ihn so erst umfassend handlungsfähig
werden zu lassen. Er verkörpert den Ausdruck der fünfzehn
souveränen Staaten, die sich zu einem gemeinsamen Handeln entschlossen
haben. Anders gesagt: Bei gleichzeitiger Flexibilität - die
geboten ist, will man jeden einzelnen Staat in seiner Souveränität
achten - kommt dieser Wille in dem Prinzip der Zwischenstaatlichkeit
voll und ganz zum Ausdruck.
Hinsichtlich
der Frage, in welcher Form die Westeuropäische Union heute
an der GASP (Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik) teilhaben
und die EU um ihre politisch-militärischen Kapazitäten
verstärken könne, steht der Konsultationsprozess noch
an seinem Anfang. Jedes der betroffenen Länder muss sich erst
noch dazu äussern, damit die in dieser Frage angemessenste
Entscheidung getroffen werden kann.
Was für
unser Handeln heute entscheidend ist - und wodurch die Strategie
von Saint-Malo erst ihre ganze Bedeutung erlangt -, ist der Wille
zu einem pragmatischen Vorgehen, zu einer stärkeren Hinwendung
zu einem konkreten Tätigwerden, anstatt sich allein auf institutionelle
Fragestellungen zu konzentrieren.
Im Hinblick
auf die WEU selbst darf aus der stärker werdenden Diskussion
um eine europäische Verteidigung nicht der Eindruck entstehen,
diese harre nurmehr ihrer Auflösung.
Die WEU kann
auf eine ganze Reihe von Erfolgen verweisen: auf Artikel V des Brüsseler
Vertrags, auf einen genuin europäischen Ansatz bei Verteidigungsfragen,
aber auch auf Kapazitäten und Ressourcen, die uns, selbst wenn
sie noch hinter unseren Erwartungen zurückbleiben, bereits
eine Richtung vorgeben.
Es liegt an
uns, diese Errungenschaften sinnvoll und mit Blick auf eine über
die WEU hinausgehende Zielsetzung einzusetzen, ohne uns dessen zu
berauben, was ihren spezifischen Beitrag zu einer Europäischen
Verteidigungspolitik ausmacht.
Dabei denke
ich vor allem an die allseits bekannten "Aktiva" und Pluspunkte:
die Planungszelle, die neue Struktur des Militärstabes, das
Satellitenzentrum, das Institut für Sicherheitsfragen, die
Koordinationsorgane für Fragen der Rüstungspolitik (WEAG,
WEAO).
Dabei denke
ich aber auch an den Arbeitsalltag und die dort gemachten Erfahrungen:
Was die Verteidigungspolitik betrifft, so haben wir gemeinsames
Arbeiten vor allem im Rahmen der WEU gelernt. Es liegt nun an uns,
auf der Grundlage dieser Erfahrung ein System zu errichten, das
der Vorbereitung politischer Entscheidungen in Verteidigungs- und
Sicherheitsfragen und deren wirksamer Umsetzung dient.
Eine andere
Frage betrifft die Fortentwicklung der Europäischen Verteidigung
innerhalb der NATO. Für sich allein betrachtet ist dieser Aspekt
unbefriedigend. Deswegen darf er aber noch lange nicht zu einem
untergeordneten Element unserer Zielsetzungen herabgestuft werden.
Die Europäische
Verteidigung muss auf zwei Beinen" stehen, d.h. einerseits
innerhalb der Atlantischen Allianz an Bedeutung gewinnen, andererseits
aber auch an Autonomie ihr gegenüber, wobei diese zweite Dimension
der ersten durchaus nicht widerspricht, sondern diese nur noch verstärken
kann. Genau darin besteht ja auch die Quintessenz der Beschlüsse
von Saint-Malo, die von unseren deutschen Freunden in voller Übereinstimmung
aufgegriffen wurden.
Was die NATO
betrifft, so müssen wir uns zuallererst über die auf dem
Berliner Gipfel 1996 beschlossenen Ziele voll und ganz klar werden,
die in meinen Augen einen Schlüsselfaktor für das neue
euroatlantische Gleichgewicht darstellen. Wir müssen allerdings
auch über Berlin hinausgehen und den stellvertretenden NATO-Oberkommandierenden
für Europa (SACEUR) mit Mitteln ausstatten, mit denen er seine
europäischen Aufgaben erst voll und ganz wird wahrnehmen können,
und ausserdem der Europäischen Union den Zugang zu den NATO-Ressourcen
- vor allem im Bereich der Planung - ermöglichen.
Was die rein
europäische Dimension betrifft, so beinhaltet sie, dass mit
dem Aufbau autonomer Kommandostrukturen fortgefahren wird, die über
bewaffnete Streitkräfte und eine glaubwürdige Befehlsgewalt
verfügen sollten. Die Europäer könnten jeweils dann
darauf zurückgreifen, wenn die Amerikaner keinen NATO-Einsatz
wünschen.
Vor der Umsetzung
dieser Prinzipien haben wir gemeinsam noch viel Arbeit zu bewältigen.
Wir müssen von einer klaren Vorstellung unserer Interessen
ausgehen, die sich dank unserer Vor-Ort-Erfahrung besser bestimmen
lassen. Sodann gilt es, auf dieser Grundlage über die geeignetsten
Mittel nachzudenken, wie man ihnen in realistischer Weise gerecht
werden kann, ohne dabei ein allzu schwerfälliges System anzuvisieren,
das nur eine Kopie der NATO wäre, aber auch ohne uns mit rein
symbolischen Organen zu begnügen.
Das wird ein
langer Weg werden. Beim Euro hat dies zehn Jahre in Anspruch genommen.
Wir werden allerdings nur erfolgreich sein, wenn wir gemeinsam daran
arbeiten. Genau darin besteht unser Wunsch. Aussenminister Hubert
Vedrine und ich haben eine Vielzahl von Ländern bereist, um
unser Vorgehen zu erklären. Wir setzen unsere Arbeit fort,
denn die Europäische Verteidigung ist überhaupt nur in
Abstimmung mit allen Europäern vorstellbar. Wir arbeiten auch
weiterhin vertrauensvoll und transparent mit den Vereinigten Staaten
zusammen, denn wir sind uns alle bewusst, dass sich eine Europäische
Verteidigung nicht mit der Absicht erreichen lässt, mit unserem
Hauptalliierten zu rivalisieren, sondern nur auf der Grundlage des
gemeinsamen Wunsches, wir als Europäer sollten die Möglichkeiten
haben, unserer eigenen Verantwortung gerecht zu werden.
Eigene
Übersetzung des Forum
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