Zu Beginn
dieses Jahrzehnts hat der Zusammenbruch des sowjetischen Herrschaftsbereichs
den Europäern die Gelegenheit zu einer Beschleunigung des Sicherheitsprozesses
in Europa gegeben, die sie auch wahrnehmen zu wollen schienen. Im
Maastricht-Vertrag wurde erstmalig eine "Gemeinsame Aussen- und
Sicherheitspolitik" (GASP) verankert. Gleichzeitig hat uns allerdings
die Bosnienkrise konkret unsere Unfähigkeit vor Augen geführt, uns
auf ein gemeinsames politisches Projekt zu einigen. Die Entwicklung
einer neuen NATO-Strategie wurde den Amerikanern überlassen. Dadurch
wurden auch die durch die Westeuropäische Union genährten Hoffnungen
gedämpft, es könnten erste Anfänge zu einer autonomen Verteidigung
entstehen.
Vor zwei Jahren wurden im Amsterdamer Vertrag, an den sich ebenfalls
viele Hoffnungen knüpften, erste Anstrengungen zu einer Annäherung
zwischen der Westeuropäischen Union und der Europäischen Union eingeleitet:
Dem Generalsekretär des Europäischen Rates wurde nämlich das Amt
des Hohen Vertreters für die Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik
übertragen und den Handlungsfeldern der Gemeinsamen Aussen- und
Sicherheitspolitik wurden zusätzlich die sogenannten Petersberger
Missionen zugeordnet (humanitäre Einsätze, Rückführungseinsätze
von EU-Staatsbürgern, friedenerhaltende bzw. friedenschaffende Einsätze).
In diesem Vertrag wurde gleichfalls die Strategieplanungs- und Frühwarneinheit
begründet und eine Koordinierung der Rüstungspolitiken angestrebt.
Letzten März bot uns die Kosovo-Krise aufs Neue Gelegenheit, unseren
Absichtserklärungen erste Anwendungsschritte folgen zu lassen. Unsere
Bemühungen führten aber nicht zum Ziel, so dass die Zuspitzung der
Krise das Eingreifen der NATO erforderlich machte - und damit auch
das der Vereinigten Staaten mit der logischen und leicht nachvollziehbaren
Konsequenz, dass das Krisenmanagement bisweilen eher den amerikanischen
als den europäischen Machtinteressen diente. Ein weiteres Mal traten
unsere Schwierigkeiten zutage, kohärent und autonom auf Krisen zu
reagieren, die sich vor unserer Haustür abspielen, und es war, so
liesse sich wohl sagen, ein weiterer Beleg dafür, dass das Problem
weniger in einem "zuviel Amerika" als in einem "zuwenig Europa"
besteht.
Zwar ist der Zusammenhalt während der Kosovo-Krise und die Entschlossenheit
der Bündnisstaaten zu begrüssen, die ihrer Verantwortung voll und
ganz gerecht geworden sind. Darüber hinaus waren die eingesetzten
Kampfmittel auch ohne grössere Reibungsverluste operabel, was einen
Beweis für ihre reelle Interoperabilität darstellt. Gleichwohl ist
ebenfalls nicht zu leugnen, dass die Staaten der Europäischen Gemeinschaft
durch das Defizit an vor allem auch militärischen Kapazitäten dazu
gezwungen sind, auf die "leadership" Amerikas zurückzugreifen. Aber
selbst wenn bei den strategischen Interessen Übereinstimmung herrschen
mag, so sind doch die strategischen Vorstellungen Washingtons nicht
unbedingt mit denen der Europäischen Union identisch.
* * *
Europas Willensbekundungen werden immer drängender, auf der Basis
eigener militärischer Mittel politischen Ansprüchen Geltung zu verschaffen.
Das britisch-französische Gipfeltreffen in Saint-Malo, die Feierlichkeiten
zum 50jährigen Bestehen der Allianz in Washington, das deutsch-französische
Gipfeltreffen in Toulouse und der Europäische Rat in Köln boten
in den letzten Monaten allesamt Gelegenheit zu einer Weiterentwicklung
der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Zwischen unseren Ländern herrscht Konsens darüber, dass eine solche
Weiterentwicklung die politischen Kapazitäten der Europäischen Union
verstärken würde. Unsere Aufgabe besteht also nunmehr darin, diesen
Willensbekundungen konkrete Schritte folgen zu lassen, nicht etwa,
indem theoretisch und abstrakt über eine europäische Sicherheits-
und Verteidigungsidentität nachgedacht würde, sondern vielmehr dadurch,
dass die Solidarität zwischen Europäern gestärkt, dass den europäischen
Ansprüchen Geltung verschafft und dass gemeinsam über die Mittel
befunden wird, wie der Europäischen Union die Handlungsfähigkeit
gegeben werden kann, damit sie ihrer Verantwortung gerecht wird.
* * *
Erstes Ziel: Stärkung der Solidarität und Stärkung unserer Zielsetzungen
in Fragen der Sicherheit und Verteidigung im Rahmen der Europäischen
Union.
Die Übertragung der bereits angesprochenen Petersberg-Missionen
in den Aufgabenbereich der Europäischen Union veranschaulicht den
lauter werdenden Wunsch der Mitgliedstaaten nach einer gemeinschaftlichen
Lösung internationaler Krisen. Damit diese Krisen in all ihren diplomatischen,
militärischen, wirtschaftlichen, humanitären und sonstigen Aspekten
bewältigt werden können, muss selbstverständlich mit einer einzigen
Stimme gesprochen werden. Das bedeutet, dass wir starke, kollektive
politische Zielvorstellungen erarbeiten müssen, die nicht nur in
einem (notwendig instabilen) Nebeneinander nationaler Ziele bestehen
dürfen, sondern die vielmehr die Interessen der Union und die Werte,
die selbige zu verfolgen gedenkt, näher zu bestimmen haben. Dabei
bedarf es einer gewissen Flexibilität, um die möglichen Entwicklungen
in und ausserhalb der Union nicht zu behindern.
* * *
Um unserer Verantwortung gerecht zu werden, brauchen wir zweitens
Handlungskapazitäten im Dienst dieser politischen Zielvorstellungen.
Konkret bedeutet dies eine Ausstattung mit den notwendigen Mitteln,
um diplomatische, militärische oder wirtschaftliche Optionen wahrzunehmen,
um kollektiv zu entscheiden und die Ausführung unserer Entscheidungen
zu kontrollieren.
Es gibt den Europäischen Rat. Andere kollektive Entscheidungsorgane
müssen noch geschaffen werden, u.a. ein Rat der Aussen- und Verteidigungsminister,
der die politischen Entscheidungen genauer definieren und die strategischen
Optionen - wie z.B. die Förderung einer Präventivdiplomatie, die
Gewaltbefriedung bzw. die gewaltsame Durchsetzung des Friedens oder
des Rechts - festsetzen können. Ohne eine Revision des EU-Vertrages
abwarten zu müssen, ist es heute schon möglich, mit der Einrichtung
von drei, im Amsterdamer Vertrag verankerten Institutionen zu beginnen:
dem politischen Sicherheitskomitee, dem europäischen Militärausschuss
und dem Militärsekretariat. Ausgehend von einem unabhängigen, sowohl
zivilen als auch militärischen Gutachten liesse sich damit ein umfassender
Analyse-, Entscheidungs- und Handlungskreislauf fruchtbar machen.
Darüber hinaus liesse sich das Satellitenzentrum und das Sicherheitsinstitut
der Westeuropäischen Union zu einem der Europäischen Union angehörenden
Instrumentarium umfunktionieren. Mit der Einrichtung solch eines
ersten Institutionengefüges würde unserem gemeinschaftlichen Wunsch
Ausdruck verliehen, den Weg zu einer europäischen Verteidigung zu
beschreiten und die Beschlüsse des Kölner Gipfeltreffens in die
Tat umzusetzen.
Im übrigen scheint der Gedanke, die Kapazitätsziele - ähnlich wie
im Vorfeld zur Bildung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion
- in der Form von "Konvergenzkriterien" zu definieren, bei den Mitgliedstaaten
der Union zunehmend auf Zustimmung zu stossen. Dieser Gedanke sollte
die Staaten Europas dazu bewegen, ihre Verteidigungsanstrengungen
in finanzieller und technologischer Hinsicht, aber auch hinsichtlich
ihrer Einsatzfähigkeit auf einem glaubhaften Niveau zu halten oder
dieses zu erreichen. Dies wäre der Beweis für eine existierende
gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik. Allerdings müssen sie
dafür erst einmal definiert und dann auch verfolgt werden! Genau
darin besteht die wichtigste, noch vor uns liegende Aufgabe.
* * *
Drittes Ziel: Die Befähigung zu selbständigen Militäraktionen, denn
ohne glaubwürdige Zwangsmittel ist eine Aussenpolitik nicht vorstellbar.
Das heisst aber, dass unabhängige Aufklärungs-, Kommando- und Projektionsstrukturen
errichtet werden müssen, drei Bereiche, in denen Europa noch nicht
über die Möglichkeiten verfügt, um ohne amerikanische Hilfe handlungsfähig
zu sein. Und das bedeutet weiterhin, dass es multinationaler militärischer
Einsatzkräfte bedarf, die auf Missionen, die ihnen eventuell anvertraut
werden könnten, vorbereitet sind.
Die multinationalen Einsatzkräfte als Ergebnis einer von mehreren
Staaten ergriffenen Initiative bilden die materielle Entsprechung
der militärischen Kapazitäten eben dieser Staaten, einen konkreten
Beitrag zu einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik
zu leisten. Ob es sich nun um das Euro-Korps handelt, um Euromarfor
oder auch um das Europäische Trägergeschwader, diese und alle anderen
multinationalen europäischen Verbände liefern zur Zeit lediglich
punktuelle Antworten auf krisenhafte Herausforderungen. Sie sind
allzu unterschiedlich in ihrer Zielsetzung, ihren Kapazitäten, ihrer
Organisation und ihrem Einsatzrahmen. Die Effizienz wird von ihrer
Homogenität, von ihrer Interoperabilität und ihrer Fähigkeit abhängen,
auf der Grundlage eines harten Kerns und einer permanenten Empfangsstruktur
ad-hoc-Generalstäbe zu bilden. Deswegen müssen jedem einzelnen dieser
Einsatzverbände nunmehr klare und präzise Aufgabenbereiche und Ziele
zugeordnet werden. Dabei sollten Kapazitäten höherer Dringlichkeit
festgesetzt werden, über die jeder einzelne Verband zu verfügen
habe, um die Aufgaben zu erfüllen, die ihm innerhalb oder ausser-halb
der NATO anvertraut werden könnten. Diesbezüglich darf aber auch
nicht versäumt werden, die Verfügbarkeitsbedingungen sowie die für
die Geberländer gültigen Manövermodalitäten und -niveaus zu definieren,
um den politischen Entscheidungsinstanzen die Einsatzfähigkeit der
Verbände garantieren zu können.
* * *
Ein letzter Punkt: In Ermangelung einer Standardisierung ist die
Befähigung zu Militäraktionen natürlich nur über eine Interoperabilität
und Kompatibilität der Ausrüstung möglich, und damit auch nur über
eine weitergehende Zusammenarbeit in Rüstungsfragen und über eine
zu schaffende europäische Rüstungsindustrie, die der amerikanischen
Konkurrenz standzuhalten und gegen diese in einen Technologiewettbewerb
einzutreten vermag. Seit langem schon bemühen sich die europäischen
Staaten darum, der Begrenztheit ihrer Heimatmärkte durch Kooperationen
Abhilfe zu verschaffen, und bei der Westeuropäische Rüstungsorganisation
(WEAG) angefangen bis hin zur Joint Armements Cooperation Structure
(OCCAR) und den Umstrukturierungen vor allem im Bereich der Luftfahrtindustrie
beginnt sich eine erste Basis herauszubilden. Der Konzentrationsgrad
der Rüstungsindustrie in Europa liegt allerdings auf einem deutlich
niedrigeren Niveau als in den Vereinigten Staaten, während die Gesamtsumme
aller europäischen Verteidigungshaushalte durchaus mit den Aufwendungen
in Amerika vergleichbar ist.
* * *
Selbstverständlich sind solche Strukturen, mit denen die Union die
ihr zufallende Verantwortung erst übernehmen, gemeinsame Strategien
erarbeiten und autonome Militäraktionen in Angriff nehmen kann,
nicht als Konkurrenz, sondern vielmehr als Ergänzung zur Atlantischen
Allianz gedacht. Im übrigen wurde im April dieses Jahres auf dem
Washingtoner Gipfel erneut bestätigt, dass die raison d'être der
Allianz, die uns seit einem halben Jahrhundert den Frieden sichert,
in einer kollektiven Verteidigung zu suchen ist. Keine andere Organisation
kann eine derart hohe, auf wechselseitiger Achtung und auf Solidarität
beruhende Leistungsgarantie geben. Es kann aber auch niemandem entgangen
sein, dass dieses Band durch ein partnerschaftliches Gleichgewicht
zwischen Europa und den Vereinigten Staaten nur gestärkt werden
kann, entsteht doch ein Zusammengehörigkeitsgefühl in einem Bündnis
erst auf der Basis eines wirklichen Dialogs.
So ist es also unsere Aufgabe, unseren Teil an den kollektiven Sicherheitsbemühungen
ernsthaft zu übernehmen, und sei es nur, um einer Denkrichtung in
der amerikanischen Öffentlichkeit keinen Vorschub zu leisten, die
den amerikanischen Steuerzahler davon überzeugen könnte, dass er
die Verteidigung eines allzu sorglosen Europa als Verlustgeschäft
finanziert. Dann würde ein Rückzug aus den militärischen Verpflichtungen
nur allzu schnell ins Auge gefasst werden.
Und wir müssen gleichfalls darauf achten, dass die Allianz als "nordatlantische"
kollektive Verteidigungsorganisation Einsätze auf der erforderlichen
Grundlage eines UNO-Mandats führt und durch ihr Engagement zur Stärkung
der Bedeutung und Festigung der Kompetenzen des Sicherheitsrates
dieser Organisation beiträgt.
Ausserdem dürfen wir zwei Hauptakteure europäischer Sicherheit,
Russland und die Ukraine, nicht von unseren Bemühungen ausschliessen.
Ihre Entwicklung ist zwar überaus unsicher, doch sind es langfristig
- allein schon aufgrund ihres historischen und geopolitischen Potentials
- starke Militärmächte.
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Europa entwickelt sich schrittweise weiter. Der europäische Sicherheitsprozess
ist Teil eines langsamen und kontinuierlichen Prozesses, der in
vielerlei Hinsicht mit dem Prozess zu vergleichen ist, der letztlich
zu einem europäischen Wirtschafts- und Währungsraum mit Einheitswährung
geführt hat. Erst wenn eine "Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik"
ernsthaft verfolgt wird, wird es Europa gelingen, den zur Zeit vorherrschenden
Eindruck seiner Ohnmacht zu verwischen und sich Entscheidungsstrukturen
zu geben, wie sie seiner Wirtschaftskraft angemessen sind. Erst
wenn ein entsprechendes Militärpotential entsteht, wird Europa bei
der Konfliktprävention und dem Krisenmanagement vollständig und
effizient als einer der Gleichgewichtspole mitwirken, die die Welt
benötigt.
Eigene Übersetzung des Forum
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