Ende November
hat Bundeskanzler Gerhard Schröder im Anschluss an das deutsch-französische
Gipfeltref-fen, das die Entwicklung der europäischen Verteidigung
noch einmal ein Stück weitergebracht hat, vor den Abgeordneten der
französischen Nationalversammlung gesprochen.
Der Gedanke einer europäischen Verteidigungspolitik ist gewissermassen
ein deutsch-französischer Gedanke, und es gab zahlreiche Gelegenheiten,
wo die gemeinsame Verteidigungspolitik dank der Einvernehmlichkeit
der deutsch-französischen Partnerschaft wieder auf den rechten Weg
gebracht werden konnte. Die erst vor kurzem erfolgte Fusion zwischen
Aérospatiale Matra und Dasa stellt ein schönes Symbol für eine europäische
Verteidigungsindustrie dar, die unter den Impulsen Deutschlands
und Frankreichs an Stärke gewinnt.
Der Fortgang der europäischen Verteidigungspolitik hat sich im Laufe
der letzten Monate stark beschleunigt. Saint-Malo, Köln, Toulouse,
London bildeten die grundlegenden Etappen. Vor kurzem hat der Europäische
Rat in Helsinki diesen vor einem Jahr begonnenen Prozess gekrönt.
Die Europäer sind sich nunmehr darüber einig, dass eine eigene,
europäische militärische Interventionsstreitkraft notwendig ist;
an deren Strukturen wird gearbeitet (WEU, GASP); neue Organe zur
Leitung und Planung von Militäroperationen werden begründet: ein
politisches Sicherheitskomitee, ein Militärkomitee, ein Generalstab;
sie gewinnen an Glaubwürdigkeit, wie durch das Vorhaben bezeugt
wird, Europa den Oberbefehl der KFOR im Kosovo zu übertragen.
Dennoch bleibt noch viel zu tun, um alle in Helsinki getroffenen
Entscheidungen inhaltlich und effizient zu konkretisieren.
Ich glaube vor allem, dass wir aus unserem Wunsch nach einer europäischen
Verteidigungsidentität die sich daraus ergebenden rüstungspolitischen,
technologischen und budgetären Konsequenzen klarer ziehen müssen.
Eine Europäisierung unserer Verteidigungsbudgets sowie eine Rationalisierung
der Verwendung der Zuweisungen werden bald zu einer Notwendigkeit
werden.
Angesichts der Tatsache, dass heute keines der europäischen Länder
über hinreichend Mittel verfügt, alle Waffensysteme zu entwickeln
und die Forschung in allen Bereichen zu finanzieren, werden wir
möglichst weit oben ansetzen müssen. Das setzt z.B. voraus, dass
über Mängel nicht länger in einem streng nationalen Rahmen nachgedacht
wird, sondern in einem globaleren, europäischen Zusammenhang. Warum
sollten wir für bestimmte Waffengattungen, über die unsere europäischen
Partner bereits verfügen, kostenintensive nationale Programme anstrengen?
Warum sollten wir nicht lernen, unsere Ressourcen zu poolen und
auf europäischer Ebene Sammelaufträge für bestimmte Systeme auszugeben?
Diese Entwicklung sollte natürlich vorrangig die Bereiche betreffen,
in denen sich ein Mangel bemerkbar macht: bei strategischen und
taktischen Transportmitteln, Beobachtungs- und Abhörsatelliten im
All, Präzisionswaffensystemen, die aus sicherer Entfernung eingesetzt
werden können, und - warum nicht auch - bei neuen Flugzeugträger.
In diesem Zusammenhang wäre es wünschenswert, wenn wir uns angewöhnen
würden, unsere militärischen Planungsgesetze in Abstimmung mit unseren
Partnern auszuarbeiten. Warum sollten wir nicht auch im Vorfeld
zu diesen Bemühungen ein europäisches "Weissbuch" der Verteidigung
ins Auge fassen, in dem auf der Grundlage eines einzigen Befundes
gemeinsame Ziele definiert werden könnten?
All das ist ein ehrgeiziges Programm, doch glaube ich, dass wir
umso leichter Fortschritte erzielen werden, als uns das Kosovo unsere
Unzulänglichkeiten klar und deutlich vor Augen geführt hat. Es musste
also erst zu einem Krieg kommen, bevor sich Europa ernsthaft seiner
Mängel auf dem Gebiet der Verteidigung bewusst geworden ist. Wir
empfanden diese Situation wirklich als unangenehm, weil wir das
Gefühl hatten, dass die Europäer, die von dem Konflikt doch zuallererst
betroffen waren, bei den Gesprächen anderthalb Jahre lang zwar eine
unschätzbare Rolle gespielt hatten, dass aber zu dem Zeitpunkt,
als es darum ging, militärisch zu drohen, um eine politische Lösung
zu erzwingen, die Unterstützung durch die Vereinigten Staaten und
deren militärische Überlegenheit in Anspruch genommen werden mussten.
So haben also die Vereinigten Staaten 80% aller Einsatzflugzeuge
der Atlantischen Allianz gestellt und die Schwächen der europäischen
Streitkräfte in bezug auf Präzisionswaffen und Aufklärungspotential
kompensieren müssen.
Für uns Europäer war dieser Konflikt eine Gelegenheit, sich dessen
bewusst zu werden, dass dieses ursprünglich militärische Handicap
irgendwann zu einem politischen werden wird: Wie kann man in einer
Verhandlungssituation Druck ausüben, wenn andere als man selbst
über das militärische Instrumentarium verfügen, auf das man zur
Durchsetzung einer politischen Lösung zurückgreift? Wie wollte man
verhindern, dass die Amerikaner ihrem Standpunkt mit Nachdruck Geltung
verschaffen, wo sie doch einen immer noch beträchtlichen Anteil
an unserer Sicherheit gewährleisten?
Manchmal ist zu hören, dass ausserhalb der Allianz kein Heil zu
finden sei und dass sich ausserhalb der NATO kein europäisches Verteidigungssystem
errichten lasse. Tatsächlich stellt sich die Frage aber nicht in
dieser Form. In der Struktur der NATO spiegelt sich augenblicklich
die militärische Dominanz der Vereinigten Staaten wider. Deswegen
müssen wir aus zwei Gründen eine europäische Verteidigung begründen:
um das Gleichgewicht in der transatlantischen Partnerschaft wieder
herzustellen und damit Europa im Ernstfall eigenständig handeln
kann.
Dies zu behaupten, bedeutet, dass Europa über die Mittel zu einer
Einsatzplanung, zu multinationalen Generalstäben und Kommandostrukturen
verfügen muss, wie sie für eigenständige Einsätze vonnöten sind,
aber auch über Streitkräfte wie z.B. eine schnelle Eingreiftruppe,
mit denen solche Operationen durchgeführt werden können. Die Entscheidungen
des Europäischen Rates in Helsinki zur Schaffung bis zum Jahre 2003
von Streitkräften zwischen 50.000 und 60.000 Mann, die binnen 60
Tagen einsatzfähig sein sollen, weisen in diese Richtung. Mit diesen
Kapazitäten und Strukturen lässt sich sowohl an Einsätzen im Rahmen
der NATO als auch ausserhalb der NATO teilnehmen.
Das Gipfeltreffen in Helsinki stellt eine grundlegende Etappe dar
auf dem Weg zu einer europäischen Verteidigungspolitik. Nunmehr
gilt es, zur Tat zu schreiten. Das allerdings setzt die Entschlossenheit
der Europäer voraus.
Eigene Übersetzung des Forum
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