" Für
die Mehrheit der Franzosen war Deutschland 1914 der Erbfeind. Zum
Jahrhundertende ist es zum wichtigsten Partner Frankreichs geworden
und gilt in einer Reihe von Bereichen als Vorbild. Stets war Deutschland
problematisch oder mit Zweifeln behaftet, ein Doppel- oder ein Spiegelbild
und ein Land, auf das sich Frankreich zu seiner Selbstbestimmung
bevorzugt bezog."
Das sind Worte des Historikers Georges-Henri Soutou. Seine Sichtweise
ist wegen ihrer Objektivität verdienstvoll. Er kündet nicht von
dem nächsten Krieg zwischen Deutschland und Frankreich oder von
einer neuen Auseinandersetzung im Jahre 2010 und weckt auch nicht
die Ängste der Vergangenheit.
Über die Entwicklung unseres Partners, die Zukunftsprobleme und
die möglichen Reformen muss in gemeinsamem Interesse nachgedacht
werden.
Deutschland verändert sich
Deutschland hat seine Souveränität wiedererlangt, sein Territorium
und seine Bevölkerung vergrössert. Eine neue Generation, die den
Krieg nicht mehr erlebt hat, gelangt an die Macht. Die Wiedereinsetzung
Berlins als Hauptstadt versinnbildlicht diesen Wandel.
Im Unterschied zur Nachkriegszeit hat Deutschland keine von aussen
aufgezwungene Identität mehr zu übernehmen. Es muss sich seine eigene
Persönlichkeit ausbilden.
Wie auch für uns Franzosen besteht sein eigentliches politisches
Problem darin, was das in steter Ausweitung begriffene Sozialsystem
ersetzen soll, damit in Zukunft das Ziel des inneren Zusammenhalts
aufrechterhalten werden kann.
Aufgrund seiner Bedeutung und seines Einflusses in West-, Mittel-
und Osteuropa stellt Deutschland unbestritten eine Regionalmacht
dar. Seine Rolle als drittgrösste Wirtschaftsmacht verleiht ihm
einige Merkmale einer sich herausbildenden Grossmacht. Die Gefahr
besteht heute nicht so sehr darin, dass es im Widerspruch zu dem
Projekt Europa nach einer Stärkung der "nationalen Sichtweise" streben
könnte. Weitaus beunruhigender erscheint Deutschlands Hinwendung
zu seinen internen Schwierigkeiten: eine noch nicht vollzogene Einheit,
ein in Frage gestellter Föderalismus, die Überalterung der Bevölkerung,
eine Gesellschaft, die sich angesichts eines neuen Staatsangehörigkeitsrechts
erst noch finden muss. Bei fehlender innerer Vitalität könnte Deutschland
sein Heil allerdings in einer "Venediger Versuchung" suchen(1).
Nichts wäre für die deutsch-französischen Beziehungen schädlicher
als ein sich in Selbstzufriedenheit ergehender Immobilismus.
Angesichts der Zukunft
Die mechanisch erfolgenden Kontakte führen bisweilen dazu, dass
übersehen wird, dass in einer Vielzahl von Problemfeldern (mehr
oder weniger föderale Zukunft der europäischen Einigung, Beziehungen
zu den Vereinigten Staaten, Russland, dem Balkan, der moslemischen
Welt) immer noch kein grundsätzliches Einvernehmen zwischen unseren
beiden Ländern herrscht. Von eben diesem Einverständnis wird allerdings
die Zukunft Europas abhängen: ein steter und ausgewogener Einigungsprozess
oder eine Freihandelszone. Unterdessen fehlt es nicht an konkreten
Schwierigkeiten. Drei Themen zeichnen sich am Horizont ab:
- Die Zukunft des Rheinischen Kapitalismus
Deutschland könnte sich auf einen nunmehr weltweit den Ton angebenden
Profitkapitalismus zubewegen. Das traditionelle System kundennaher
Hausbanken scheint einer Logik zu weichen, die dem Aktionärstum
den Vorzug gibt. Sollte sich dieser Wandel als unumkehrbar herausstellen,
würde dies letztlich zu einer tiefgreifenden Veränderung führen.
- Die Zukunft der Atomenergie
Die deutsche Politik zwischen den Energiebetreibern und der Regierung
ist weltweit einzigartig. Nirgendwo sonst wird behauptet: in 25
Jahren wird Ihr Kraftwerk geschlossen. Hinsichtlich der Investitionen
stellt dies ein weitreichendes finanzielles und wirtschaftliches
Problem dar. In den Vereinigten Staaten ist man im Begriff die Laufzeiten
der Kraftwerke von 40 auf 60 Jahre zu erhöhen.
- Die Luftfahrtpolitik
Die grossen Projekte - Airbus, das künftige Grossraumflugzeug A3
XX und das militärische Transportflugzeug A.T.F. - geben zu schwierigen
Verhandlungen Anlass. Franzosen, Deutsche und Spanier sollten sich
mit der Gründung der Gesellschaft EADS verschmelzen. Die Konkurrenz
zwischen Rafale und dem Eurofighter wird noch lange andauern.
Was ist zu tun?
Divergenzen hinsichtlich der wirtschaftlichen und industriellen
Sachverhalte werden nicht zu vermeiden sein.
Unsere Bemühungen sollten also auf die Annäherung der Menschen und
der Völker zielen. Wir müssen den Standpunkt des Anderen anhören
und im voraus verstehen.
Die Sprache ist ein ganz grundlegendes Erfordernis. Es ist keine
gesunde Entwicklung, dass immer weniger Franzosen Deutsch sprechen
und umgekehrt. In Deutschland wird zu 58% Englisch und zu 22% unsere
Sprache gesprochen. In Frankreich wird Englisch beim Abitur in 80%
der Fälle geprüft und Deutsch in 12%.
Unsere Nachbarn möchten Deutsch zu einer der drei grossen, bevorzugten
Sprachen der Union machen. Diese Forderung wird von einer an uns
gestellten Erwartung begleitet, die einen Solidaritätstest darstellt.
Das Drängen hat mit der Erweiterung zu tun, mit dem Beitritt deutschsprachiger
Staaten. Frankreich wird nach seiner Antwort beurteilt werden. Sollte
diese ausweichend ausfallen, würde davon nur das Englische profitieren,
und das Deutsche und das Französische würden in den Hintergrund
gedrängt werden.
Über diese Schwierigkeiten hinaus gilt es, das Deutsch-Französische
Jugendwerk neu zu beleben und es auch mit Krediten auszustatten.
Unsere gemeinsame Zukunft liegt in der Zusammenarbeit und in dem
steten Austausch zwischen unseren Kulturen. Es müssen neue gedankliche
Wege eingeschlagen werden, um für weniger Gleichgültigkeit und mehr
alltägliche Annäherung zu sorgen.
Warum sollte man sich nicht vorstellen können, dass als Ersatz für
die Konsulate in den Präfekturen und in den Gemeindehäusern Büros
für die Angehörigen des jeweils anderen Staates eingerichtet werden?
Eine Verschränkung unserer Verwaltungsstrukturen, um uns besser
kennen zu lernen. Im Ausland könnte der Gedanke an gemeinsame Botschaften,
ja sogar an gemeinsame Kulturzentren wieder aufgegriffen werden,
so dass damit auch nationalen Haushaltsengpässen in umfassenderen
Einrichtungen entgangen werden könnte.
Schlussfolgerung
"Deutschland? ... Ja, ein grosses Volk. Sicher, ein grosses Volk
… Nur was soll man damit jetzt anfangen". Diese launige Äusserung
von Charles de Gaulle im Jahre 1946 hat heute keine Gültigkeit mehr.
Die Zeit und die Menschen haben die Ausgangslage verändert.
Auf dem Weg von Bonn nach Berlin gilt es allerdings noch, Argwohn
zu zerstreuen.
"Deutschland wird nur dann zu stark sein, wenn Frankreich zu schwach
ist".
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(1) Es handelt sich bei der 'Venediger Versuchung' um ein
Buch des ehemaligen französischen Premierministers Alain Juppé zur
aktuellen Situation der Politiker angesichts der Last ihrer Verantwortung
vor der Öffentlichkeit und der zunehmenden Kritik an ihrer Person.
Eigene Übersetzung des Forum
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