Sind wir mehr
als zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer durch die neu gewählte
Regierung von Bush Jr. im Begriff, in die eigentliche Zeit nach
dem Kalten Krieg einzutreten? Waren die Clinton-Jahre nichts weiter
als ein achtjähriges Intermezzo, eine Klammer oder - schlichter
- eine Übergangsphase zwischen zwei Welten? Heute bestehen
zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg ernst zu nehmende Risiken
eines Abkoppelungsprozesses zwischen Europa und den Vereinigten
Staaten. Die vorangegangenen transatlantischen Missverständnisse
mochten schwerwiegender sein und ernstere Fragen berühren,
doch bildete der Kalte Krieg ein festes Bindeglied und verlieh einer
gewissen amerikanischen Arroganz in aller Augen Legitimität.
Es herrschte eine wirkliche Bedrohung, und der dargebotene Schutz
war großzügig und effizient. Und so konnte man von Amerika
fast alles akzeptieren.
Das ist heute
nicht länger der Fall. Natürlich ist Amerika mächtiger
denn je, doch ist dieses Faktum vielleicht die einzige Konstante
zwischen der Welt von gestern und der Welt von heute. Die transatlantischen
Beziehungen müssen sich in Ermangelung der sowjetischen Bedrohung
auf einer noch zu schaffenden Grundlage neu ausrichten. Die Globalisierung
und die von vielen - natürlich vor allem von Franzosen - vorgenommene
Gleichsetzung zwischen Amerikanisierung und Globalisierung hat den
Bereich, den wir vor nicht allzu langer Zeit noch internationale
Beziehungen nannten, ausgeweitet und damit auch die Natur der transatlantischen
Missverständnisse. Früher, z.B. während des Vietnamkrieges,
waren die Vereinigten Staaten wegen ihres außenpolitischen
Verhaltens kritisiert worden. Zur Zeit gibt ihr Wesen selbst - das,
was Amerika ist mehr noch als das, was es tut - zu einem wachsenden
Antiamerikanismus Anlass. Das gilt unstrittig für Frankreich,
aber darüber hinaus auch in anderen europäischen Ländern.
Wie kann ein Land, das sich bisweilen als "Licht der Welt" bezeichnet,
als demokratisches Vorbild, so wenig Zivilisation besitzen und immer
noch die Todesstrafe praktizieren?
Über die
widersprüchlichen Interessenlagen hinaus, die zwischen Europa
und den Vereinigten Staaten herrschen mögen, werden demnach
in der Zukunft wesentliche Unterschiede in der Grundausrichtung
bestehen, die umso stärker zutage treten können, als wir
nicht mehr durch eine gemeinsame Bedrohung geeint sind und unsere
Werte bei grundlegenden Gesellschaftsthemen durchaus divergieren.
Wenn Amerika den Ausdruck "In God We Trust", wie er auf seinen Dollarscheinen
prangt, wörtlich nimmt und ihm eine dem Puritanismus der Gründungsväter
nahestehende Bedeutung gibt, dann kann sich Europa, das dem gemeinsamen
Geist der Aufklärung im 18. Jahrhundert deutlich stärker
verbunden ist, hinsichtlich der Grundwerte teilweise allein gelassen
vorkommen.
Im Hinblick
auf die traditionelle Diplomatie, die heute nicht mehr denselben
Stellenwert besitzt wie früher, lassen sich die hauptsächlichen
transatlantischen Reibungsflächen in fünf Punkten zusammenfassen:
das Raketenabwehrsystem, ein verteidigungspolitisches Europa, die
NATO-Erweiterung, der Bestand der amerikanischen Truppen auf dem
Balkan sowie der internationale Handel. Es wäre ein aussichtsloses
Unterfangen für Europa, sich dem Projekt zu einem Anti-Raketen-Schild
zu widersetzen, dem die Amerikaner, die seit Pearl-Harbor davon
träumen, den natürlichen, ehemals geographisch bedingten
Schutz durch modernste und effizienteste Spitzentechnologie zu ersetzen,
den allergrößten Wert beimessen. Handelt es sich dabei
um eine kostspielige Utopie? Das wird sich zeigen. Viele Europäer
könnten jedenfalls der Versuchung erliegen, eine verständnisvolle
Zurückhaltung angesichts der "missile defense" gegen die Unterstützung,
zumindest aber eine weniger offensichtliche Kritik der Vereinigten
Staaten an der Schaffung einer eigenständigen Verteidigungsidentität
in Europa einzutauschen. Anders als viele Vertreter der neuen amerikanischen
Regierung zu glauben scheinen, bedeutet mehr Europa nicht weniger,
sondern ein Mehr an Allianz. Und je größer der Beitrag
Europas zu seiner Sicherheit ist, desto weniger leicht wird Amerika
den betörenden Klängen des Neoisolationismus nachgeben!
Vergebens würde
sich Europa auch einer NATO-Erweiterung um die baltischen Republiken
widersetzen, die so offensichtlich dem innigen Wunsch der Beitrittsländer
entspricht. Aber wie sollte Amerika dann die Erweiterungslogik der
NATO mit der Logik eines einseitigen und vorzeitigen Rückzugs
seiner Truppen aus dem Balkan miteinander vereinbaren? Auf diesen
Widerspruch verweisen nicht allein die Europäer. Auch in Amerika
ist daran im Vorfeld häufig Kritik laut geworden.
Wenn man nun
von den Sicherheitsfragen zu den Handelsfragen übergeht, dann
unterliegt das Gleichgewicht zwischen Europa und den Vereinigten
Staaten einem Wandlungsprozess. Im Hinblick auf den internationalen
Handel ist Europa nicht anders als die Vereinigten Staaten eine
klassische Supermacht, und Pascal Lamy kann mit seinem Amtspartner
Robert Zoellic gleichberechtigt Verhandlungen führen. Die künftige
Zielsetzung der Europäer muss darin bestehen, das existierende
währungs- und handelspolitische Gleichgewicht auf alle Bereiche
zu übertragen. Gegenwärtig scheint dieses Ziel unerreichbar;
aber wer weiß? Eines ist jedenfalls gewiss: je gleichberechtigter
die transatlantischen Beziehungen sein werden, als desto stabiler
und dauerhafter werden sie sich erweisen.
Übersetzung
Forum (MT)
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