Die europäischen
Verträge haben auf dem Gebiet der Europäischen Union
eine neue, eigenständige Rechtsordnung geschaffen, die
umfangreiche Wirkungen auf das nationale Recht entfaltet.
Sie führt auch in Bereichen zu einer gewissen Vereinheitlichung,
die in den verschiedenen europäischen Staaten ganz unterschiedlich
entstanden und ausgestaltet waren. Ein Beispiel für eine
derartige Entwicklung, die gerade im deutsch-französischen
Bereich bedeutsam ist, betrifft die wirtschaftliche Betätigung
der öffentlichen Hand. In allen europäischen Staaten
haben sich im 20. Jahrhundert Aufgaben herausgebildet, die
von der öffentlichen Hand übernommen wurden, obwohl
sie grundsätzlich auch privatwirtschaftlich hätten
angeboten werden können oder zu-nächst auch so angeboten
wurden, aber nach dem Ende des 2. Weltkrieges verstaatlicht
wurden. Zu solchen Aufgaben zählen insbesondere Versorgungsleistungen
mit Strom, Wasser, Gas aber Telekommunikation und Bahn.
Im Rahmen des Bemühens der wirtschaftlichen Liberalisierung,
die zu Effektivitätssteigerungen führt, ist in den
achtziger Jahren die staatliche Erfüllung dieser Aufgaben
vermehrt in Frage ge-stellt worden. Dies geschah insbesondere
auf europäischer Ebene, weil dort infolge der Verträge
von Rom und später von Maastricht die Kompetenz zur Regelung
dieser Frage lag. Ziel dieser Abhandlung ist es, zunächst
einmal die verschiedenen Ursprünge der wirtschaftlichen
Betätigung der öffentlichen Hand in Deutschland
und Frankreich aus rechtlicher Perspektive darzustellen, und
dann den durch die europäische Rechtsetzung erfolgten
Konvergenzprozess herauszuarbei-ten.
1. Die
Begriffe "Daseinsvorsorge" und "service public"
Der Begriff
Daseinsvorsorge wurde erstmals vom deutschen Juristen Ernst
Forsthoff in seiner Studie "Die Verwaltung als Leistungsträger",
die unter den Bedingungen der NS-Diktatur ent-standen ist
(1938), verwendet. Darin definiert Forsthoff den Begriff der
Daseinsvorsorge als "alles, was von Seiten der Verwaltung
geschieht, um die Allgemeinheit oder nach objektiven Merk-malen
bestimmbare Personenkreise in den Genuss nützlicher Leistungen
zu setzen". Vorausset-zung dafür sollte zum einen
die Gewährleistung eines angemessenen Verhältnisses
von Arbeitslohn und dem Preis für die Leistung sein,
zum anderen impliziert die Forsthoff'sche Definition auch
die Lenkung des Bedarfs, der Erzeugung und des Umsatzes. Schließlich
sollen von dieser Definition nur solche Bereiche erfasst sein,
zu der "Leistungen, auf welche der in die modernen massentümlichen
Lebensformen verwiesene Mensch lebensnotwendig angewiesen
ist" zählen.
Aufgrund
des Zustandekommens der Definition hat sich nur die dritte
Art von Leistung erhalten: Sie verkörpert das heutige
Verständnis der Daseinsvorsorge und entspricht im wesentlichen
der "Leistungsverwaltung". Abzugrenzen ist die Daseinsvorsorge
im deutschen Recht von der staatlichen Eingriffsverwaltung
einerseits und vom rein fiskalischen Handeln des Staates andererseits.
Mit der Einführung des Begriffes "Daseinsvorsorge"
wurden zunächst zwei Zwecke verfolgt:
Nachdem
das liberale Staatsverständnis des 19. Jahrhunderts nicht
nur im Kontext nationalsozialistischer Ideologie, sondern
auch ganz allgemein zur Beantwortung der sozialen Frage in
modernen Industriegesellschaften als nicht mehr ausreichend
empfunden wurde, musste eine Rechtfertigung für staatliches
Handeln auf dem Gebiet der Leistungsverwaltung gefunden werden.
Außerdem wurde ein Weg gesucht, die Schutzfunktion des
Öffentlichen Rechts auch auf Sachverhalte anwendbar zu
machen, bei denen der Staat aktiv in die Wirtschaft eingreift.
Die Rechtsentwicklung hat diese Funktionen jedoch obsolet
gemacht. Die Anwendung der Grundrechte, insbesondere des allgemeinen
Gleichheitsgrundsatzes (Art. 3 Grundgesetz), im Verwaltungsprivatrecht
mittels der Zwei-Stufen-Theorie, gilt generell, ohne an die
Qualifikation eines Sachverhalts als Daseinsvorsorge anzuknüpfen.
Im deutschen Recht ist der Begriff der Daseinsvorsorge damit
heute nur noch ein beschreibender Begriff, der keine Rechtsfolgen
auslöst.
Im französischen
Recht werden die services publics definiert als jede, von
der Verwaltung im öffentlichen Interesse durchgeführte
Unternehmung. Es handelt sich hierbei um eine weite Defini-tion,
die beispielsweise auch die Aufrechterhaltung der öffentlichen
Ordnung und damit - im Sinne des deutschen Rechts - Bereiche
der klassischen Eingriffsverwaltung umfasst. In Aus-nahmefällen
kann auch eine Tätigkeit zur reinen Einnahmeerzielung
erfasst sein, wenn die Ein-nahmen unmittelbar zur Finanzierung
einer Tätigkeit im öffentlichen Interesse dienen.
Die öffentliche
Hand kann auf dem Gebiet der services publics direkt oder
auch indirekt durch Beauftragung von Privatunternehmen tätig
werden. Im Verhältnis zu den Nutzern eines service public
muss nicht in jedem Fall öffentliches Recht anwendbar
sein: Es muss unterschieden werden zwischen services publics
administratifs, bei denen öffentliches Recht anwendbar
und der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist, und services
publics industriels et commerciaux, auf die Privatrecht angewendet
wird und der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten eröffnet
ist. Im letzteren Fall handelt die Verwaltung typischerweise,
aber nicht zwingend indirekt.
Beide
Arten von services publics werden aber unabhängig davon,
ob öffentliches Recht oder Zi-vilrecht darauf anwendbar
ist, von drei Prinzipien beherrscht: Zunächst gilt das
Prinzip der mutabilité (Veränderlichkeit): Der
service public muss rechtlich so ausgestaltet sein, dass er
an ver-änderte Umstände jederzeit angepasst werden
kann. Einen Anspruch auf Erhaltung des service public in seiner
jeweils gültigen Form besteht nicht. Zum anderen wird
der service public vom Grundsatz der continuité (Kontinuität)
beherrscht: So muss das Funktionieren des service public muss
vom Staat stets sichergestellt werden. Schließlich gilt
das Prinzip der égalité (Gleichheit). Dies bedeutet,
dass allen Nutzern unter gleichen Bedingungen Zugang zur jeweiligen
Dienstleistung gewährt werden. Gleiches gilt auch für
Bewerber um Stellen und für die Behandlung von Angestellten.
"service public" ist daher ein Rechtsbegriff; sein
Vorliegen löst konkrete Rechtsfolgen aus.
Teil 2: Konvergenzprozesse
und Konflikte durch europäische Rechtssetzung
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