2. Konvergenzprozesse
und Konflikte durch europäische Rechtssetzung
Auf dem
Gebiet der Daseinsvorsorge stehen sich das Interesse der Gemeinschaft,
den freien Binnenmarkt auf allen wirtschaftlich relevanten
Gebieten zu verwirklichen, und das Interesse der Mitgliedstaaten
und ihrer Untergliederungen, ihre wirtschaftspolitischen Gestaltungsspielräume
zu erhalten, gegenüber. Das Gemeinschaftsrecht wirkt
in zweierlei Hinsicht auf Unternehmungen der Daseinsvorsorge
ein: Über die Monopolkontrolle gemäß Art.
81, 82 EGV (z. B. in der Telekommunikationsbranche, oder der
Strom- und Gasversorgung) und die Beihilfenkontrolle gemäß
Art. 87 EGV (z. B. die deutschen Landesbanken).
Die Grundentscheidung über die Anwendbarkeit dieser Normen
auf Unternehmen der Daseinsvorsorge trifft Art. 86 EGV, der
von einer grundsätzlichen Anwendbarkeit ausgeht, aber
Ausnahmen zulässt.
Im einzelnen
stellt sich das System der einschlägigen Normen des EGV
folgendermaßen dar: Art. 81, 82 und Art. 87 WV sind
auf Unternehmen der Daseinsvorsorge ebenso wie in jedem an-deren
Fall von vornherein unanwendbar, wenn es sich um eine nicht
marktbezogene, also nicht wirtschaftliche Tätigkeit handelt,
wenn die Tätigkeit nicht zwischenstaatlich wirkt, und
wenn ein Bagatellfall vorliegt. Dies führt bereits dazu,
dass ein großer Teil der kommunalen Daseinsvor-sorge
nicht vom EGV erfasst wird.
Ist das
Wettbewerbsrecht dagegen grundsätzlich anwendbar, so
kann davon eine Ausnahme gemäß Art. 86 Abs.1 S.1
EGV gemacht werden.
Art. 86
EGV liegt das Prinzip der Neutralität zugrunde, d. h.
öffentliche und private Unternehmen werden gleich behandelt,
da das Europarecht gemäß Art. 295 EGV die Eigentumsordnungen
der Mitgliedstaaten unberührt lässt. Art. 86 EGV
sieht nun vor, dass die Mitgliedstaaten Dienst-leistungen
von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse definieren können,
für die Ausnahmen vom Wettbewerbsrecht unter folgenden
Voraussetzungen möglich sind: Erstens muss die Erfüllung
der besonderen Aufgabe durch die Geltung der Wettbewerbsregeln
rechtlich oder tatsächlich verhindert werden (nach der
Rspr. des EuGH ist dazu keine Existenzgefährdung des
Unternehmens erforderlich, bloße wirtschaftliche Unausgewogenheit
genügt). Zweitens darf die Aus-nahme den Handelsverkehr
nicht in dem Ausmaß beeinträchtigen, dass es den
Interessen der Gemeinschaft zuwiderläuft. Und drittens
muss die Ausnahme schließlich dem ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal
der Verhältnismäßigkeit genügen, d. h.
es darf kein wettbewerbskonformes Mittel geben, das den gleichen
Zweck erfüllt.
Angesichts
dieses scheinbar austarierten Systems, stellt sich die Frage,
warum es immer wieder Meinungsverschiedenheiten zwischen Mitgliedstaaten
und der Kommission in diesem Zusammenhang gibt. So sah sich
die Kommission 1996 auf Drängen Frankreichs veranlasst,
eine Mit-teilung zur Behandlung von Dienstleistungen von allgemeinem
wirtschaftlichen Interesse zu veröffentlichen. Diese
Mitteilung wurde inzwischen durch eine neue Mitteilung der
Kommission von 2001 zum gleichen Thema ergänzt. Überdies
wurde auf deutsches Drängen durch den Amsterdamer Vertrag
der neue Art. 16 EGV eingeführt, der die Rolle der Daseinsvorsorge
stärken oder wenigstens absichern sollte. Tatsächlich
ändert Art. 16 EGV nichts an der Anwendung der Art. 81,
82 und 87 mit der Einschränkung des Art. 86 Abs.1 S.1
EGV und hat daher allenfalls kosmetischen Effekt. Es ist im
Übrigen auch nicht anzunehmen, das die Aufnahme der Daseinsvorsorge
in Art. 36 der europäischen Grundrechtecharta daran etwas
ändern wird.
Ursache
der immer neuen Streitfälle sind weniger sachliche Differenzen,
als ein Kompetenzkonflikt. Das oben beschriebene Normensystem
des EGV enthält allzu viele offene Rechtsbegriffe, deren
Ausfüllung noch nicht geklärt ist, was zu Rechtsunsicherheit
und immer neuen Konflikten um die Definitionshoheit in diesen
Bereichen führt. Von mitgliedstaatlicher Seite wird daher
immer wieder gefordert, diese Fragen pauschal durch Gruppenfreistellungsverordnungen
im Bereich der Daseinsvorsorge zu regeln. Die Kommission möchte
jedoch nicht auf diese Weise ihre Kontrollmöglichkeiten
beschränken.
Schon bei der Frage, wann eine nicht marktbezogene Tätigkeit
vorliegt, und das Wettbewerbsrecht damit nicht anwendbar ist,
stellt sich ein Abgrenzungsproblem, bei dem sich die Kommission
als Hüterin des Binnenmarktes einen Ermessensspielraum
zubilligt. In ihrer Mitteilung von 2001 versucht die Kommission
zwar durch einen Negativkatalog (innere und äußere
Sicherheit, Justiz, Bildung und soziale Sicherheit) mehr Rechtssicherheit
zu schaffen, doch bleiben die Bereiche so vage umschrieben,
dass neue Unklarheiten im Einzelfall vorprogrammiert sind.
Nicht
besser steht es mit Art. 86 Abs.1 S.1 EGV. Zwar sollen die
Mitgliedstaaten selbst definieren, was bei ihnen zur Daseinsvorsorge
gehören soll und damit für eine Ausnahmeregelung
des Art. 86 Abs. 2 EGV in Frage kommen soll, doch sind "Dienste
von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse" ein gemeinschaftsrechtlicher
Begriff, weshalb sich die Kommission eine Missbrauchskontrolle
vorbehält, und seine Auslegung im übrigen nur durch
den EuGH und nicht durch nationale Gerichte erfolgen kann.
Im Anwendungsbereich
des Art. 86 Abs.1 S.1 EGV hat sich auch der EuGH um mehr Rechtssi-cherheit
bemüht. In seinem Urteil zur EdF/GdF hat der EuGH die
Voraussetzung der Verhinderung der übertragenen Aufgabe
dahingehend konkretisiert, dass eine Existenzgefährdung
des Unternehmens nicht erforderlich ist, sondern das Unternehmen
die Erbringung der Leistung zu wirtschaftlich tragbaren Bedingungen
verlangen kann. Bei dieser Gelegenheit hat der EuGH auch die
Beweislast im Rahmen des Art. 86 Abs.1 S.1 EGV geregelt: Der
Mitgliedstaat muss die Gefähr-dung der Aufgabe der Daseinsvorsorge
beweisen, die Kommission ein eventuell entgegenstehendes Gemeinschaftsinteresse.
Weiterhin
hat sich der EuGH mit dem Problem der Quersubventionierung
von Dienstleistungen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse
auseinander gesetzt. Seit dem Corbeau-Urteil schien geklärt,
dass auch die Gewährung einer Monopolstellung oder Beihilfe
in einem rentablen Bereich zur Finanzierung einer nicht rentablen
Leistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse auf der
Grundlage des Art. 86 Abs.1 S.1 EGV möglich ist. Neuerdings
ist aber auch diese scheinbar gefestigte Rechtsprechung wieder
ins Wanken geraten. In einem vergleichbaren Fall hat der EuGH
neuerdings entschieden, dass der fragliche Vorteil für
das mit einer Daseinsvorsorgeaufgabe betraute Unternehmen
gar keine Beihilfe im Sinne des Art. 87 EGV darstelle, da
ihm eine adäquate Gegenleistung gegenüberstehe.
Zur Prüfung, ob ein Fall des Art. 86 Abs.1 EGV vorlag,
kam der EuGH daher gar nicht mehr. Es steht zu befürchten,
dass der EuGH zu-mindest durch dieses letztgenannte Urteil
mehr neue Fragen aufgeworfen hat, als er beantwortet hat.
Alle Bemühungen
der Beteiligten auf diesem brisanten Gebiet zu klaren und
verlässlichen Grundsätzen zu kommen, müssen
zumindest vorläufig als weitgehend gescheitert angesehen
werden. Denn künftige Anwendungsfälle werden die
unterschiedlichen Auffassungen erneut zutage treten lassen.
So besteht nur die Hoffnung, dass sich durch weitere Fälle
im Laufe der Zeit eine Kasuistik des EuGH herausbildet, die
eine gewisse Planungssicherheit bietet.
Teil 1: Die Begriffe "Daseinsvorsorge"
und "service public"
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